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Jarmuk hungert

Syrien: Lebensmittelverteilung in Flüchtlingslager nach Gefechten erneut verboten. Zivilisten brauchen dringend Hilfe

Von Gerrit Hoekman *

Seit dem vergangenen Juli ist Jarmuk von der Außenwelt abgeschlossen. Nachdem immer mehr Aufständische in den dichtbesiedelten Stadtteil im Süden der syrischen Hauptstadt Damaskus eingesickert waren, hatte die Armee damals einen dichten Belagerungsring um das hauptsächlich von Palästinensern bewohnte Viertel gezogen. Nach Angaben der palästinensischen Nachrichtenagentur Ma’an unternahmen die Konfliktparteien nun Ende März zum dritten Mal einen Anlauf für eine Waffenruhe. Doch die bleibt brüchig. Eine Woche lang konnte das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) keine Hilfslieferungen nach Jarmuk bringen, am vergangenen Montag lieferten sie dann 120 Päckchen. Am Mittwoch gab es jedoch erneut schlechte Nachrichten. »Die Verteilung der Lebensmittel am 9. April im Jarmuk wurde wegen bewaffneter Zusammenstöße verboten«, teilte die UNRWA auf Twitter mit. Nichts und niemand kommt mehr rein, nichts und niemand kommt mehr raus.

40000 Menschen, so schätzt der libanesische Daily Star, sind seit Monaten praktisch eingesperrt. Sie haben kein fließendes Wasser, kein Gas, keinen Strom. Obst und Gemüse sind rar, das Brot kostet ein Vermögen. Für 70 Dollar wird auf dem Schwarzmarkt ein Kilo Reis gehandelt oder im Tausch für zwei Schachteln Zigaretten. Das wird auf Twitter und Facebook erzählt. Die Menschen essen Gras und machen Jagd auf streunende Hunde, die selbst kein Fleisch mehr auf den Rippen haben. Im Internet kursiert gar ein Foto, auf dem hungrige Rebellen einen Löwen aus dem Damaszener Zoo zerlegen. Die Echtheit und der Ort der Aufnahme sind jedoch nicht bestätigt.

Vor allem die Zivilisten brauchen dringend Hilfe, die ersten sollen bereits verhungert sein. Seit Monaten verhandeln palästinensische Kräfte auf Seiten des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad mit den Rebellen über einen stabilen Waffenstillstand. Anfang März übergaben die Aufständischen ihre Stellungen an palästinensische Einheiten. Die syrische Armee versprach, das Lager ebenfalls nicht zu betreten. Doch die radikal-islamistische Al-Nusra-Front fühlte sich hintergangen und eroberte das Stadtviertel nach einer Woche zurück. Immerhin konnte die UNRWA ein paar Tage lang Lebensmittel ins Lager bringen: bis zu 400 Rationen pro Tag, mit jeder soll eine Familie von acht Personen der Organisation zufolge eine Woche lang leben können. Etwas mehr als 10000 Lebensmittelpakete haben die Helfer in diesem Jahr im Jarmuk verteilt. »Ein Tropfen in einem Ozean«, wie die Vereinten Nationen zugeben.

Vor dem Krieg lebten mehr als 150000 Menschen im Jarmuk. Ihre Familien waren vor vielen Jahren dorthin geflohen, in Syrien fanden sie ein neues Zuhause. Aus den Zelten von damals sind längst feste Häuser geworden. Mit dem bewaffneten Konflikt in Syrien wollten die Palästinenser nichts zu tun haben und betonen immer wieder ihre Neutralität. Der Aufstand gegen die Regierung Assads ist für die meisten eine Angelegenheit unter Syrern. Eine Zeitlang ging die Strategie auf. Während im Land längst erbittert gekämpft wurde, herrschte in Jarmuk noch weitgehend Ruhe. Doch der Stadtteil ist strategisch wichtig im Kampf um Damaskus: Direkt am Lager entlang verläuft die Autobahn 5, die durch die Rebellenhochburg Daraa bis an die jordanische Grenze führt. Jarmuk ist deshalb ein wichtiges Einfallstor ins Zentrum von Damaskus. Als im Laufe des Krieges immer mehr Rebellen den Stadtteil unsicher machten und die Scharmützel mit bewaffneten palästinensischen Einheiten zunahmen, verließen die meisten Einwohner das Viertel und flohen zu Verwandten in den Libanon, nach Jordanien oder sogar bis in den Gazastreifen.

Mit den Rebellen kam der Krieg. »Die Verwüstung ist unbeschreiblich«, berichtete UNRWA-Generalkommissar Filippo Grandi nach einem Besuch in Jarmuk Ende Februar. Achtzig Prozent der Gebäude sollen beschädigt sein. Jedes Fünfte liegt in Schutt und Asche. Recht und Gesetz haben sich verabschiedet, es wird geplündert, gemordet und öffentlich hingerichtet. »Die Zivilisten von Jarmuk werden wie Bauern behandelt in einem tödlichen Spiel, über das sie keine Kontrolle haben«, heißt es in einem Bericht, den Amnesty International Mitte März vorlegte.

* Aus: junge welt, Freitag, 11. April 2014


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