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Kampf um Jarmuk

Milizen des "Islamischen Staates" nehmen palästinensisches Flüchtlingslager in Syrien ein. Keine Einigkeit über weiteres Vorgehen

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Der Einmarsch der Einheiten des »Islamischen Staates« in das palästinensische Flüchtlingslager Jarmuk im Süden von Damaskus stellt die Einheit der Palästinenser auf eine harte Probe. Kampfverbände der Dschihadistenmiliz, die in der arabischen Welt »Daesch« genannt wird, waren am Freitag vergangener Woche aus südlichen Vororten in Jarmuk einmarschiert. Ermöglicht wurde ihnen der Zugang von Kämpfern der Al-Qaida nahestehenden Al-Nusra-Front.

Nicht verifizierbare Aufnahmen zeigten schwerbewaffnete Männer auf dem Vormarsch durch die Straßen von Jarmuk. Außerdem sind sie beim Hissen der schwarzen IS-Fahne zu sehen. Unbestätigten Berichten zufolge sollen sie die Bewohner über die Moscheen zur Gefolgschaft aufgerufen haben.

Daesch-Kämpfer sollen »in jeder Straße einen jungen Mann geköpft« und »die Köpfe aufgespießt haben«, wie ein ehemaliger Bewohner aus Jarmuk gegenüber junge Welt in Damaskus berichtete. Der Mann, der aus Sicherheitsgründen Khalid genannt werden will, konnte im Frühsommer 2013 nicht mehr in sein Haus im Viertel Muchaiyem zurückkehren, nachdem die syrische Armee einen militärischen Sperring um Jarmuk in eine Totalabriegelung ausgeweitet hatte.

Im November 2012 waren Kämpfer der Al-Nusra-Front mit Unterstützung der Hamas in das Lager eingedrungen. 90 Prozent der rund 200.000 Palästinenser flohen damals. Hunderttausende Syrer, die ebenfalls in Jarmuk lebten, waren zumeist im Laufe des Jahres 2012 in Sicherheit gebracht.

Er bereite sich mit 2.000 anderen Palästinensern darauf vor, »bewaffnet in das Lager zurückzukehren, um Daesch und die Al-Nusra-Front zu vertreiben«, sagte Khaled. Nie sei es seine Angelegenheit als Palästinenser gewesen, sich in den innersyrischen Konflikt einzumischen, erklärte er weiter. Doch Daesch und die Al-Nusra-Front seien nur militärisch zu schlagen, nicht durch Verhandlungen. Dafür sei er bereit, mit der syrischen Armee zu kooperieren. »Daesch ist gekommen, um mich zu töten, da hilft keine Überzeugung, da bleibt nur, mich mit der Waffe zu verteidigen.«

Seit Beginn der Blockade von Jarmuk durch die syrische Armee Anfang 2013 versuchen palästinensische Gruppen vor Ort, die bewaffneten Gruppen zu überzeugen, sich aus dem Flüchtlingslager zurückzuziehen. Doch die Hamas unterstützt diese Kampfverbände und ist auch selbst mit Mitgliedern seit 2011 aktiv an dem bewaffneten Aufstand gegen die syrische Regierung beteiligt.

Anfang April 2015 waren Einheiten der Hamas in Jarmuk schließlich zu einem lokalen Waffenstillstand bereit, damit die Einwohner zurückkehren konnten. Auch die Gruppe »Aknaf Al-Makdis« (»In der Umgebung von Al-Quds«) hatte offenbar die Zustimmung der Al-Nusra-Front erhalten, ihre bewaffneten Kämpfer aus Jarmuk abzuziehen. Die Unterzeichnung der Vereinbarung war für den 9. April vorgesehen.

Wie aber bereits häufig zuvor, änderte die Al-Nusra-Front ihre Ansichten und ließ erneut Kämpfer aus den südlichen Vororten nach Jarmuk einmarschieren. Diese hatten früher unter ihrem Kommando gestanden, sich inzwischen allerdings »Daesch« angeschlossen. Alle Kämpfer sollen Syrer vor allem aus dem Umland von Damaskus bzw. syrische Palästinenser sein.

Angesichts der dramatischen Entwicklung hatte Palästinenserpräsident Mahmud Abbas eine hochrangige Delegation nach Damaskus geschickt. Diese hatte nach zweitägigen Beratungen am Donnerstag einer militärischen Rückeroberung von Jarmuk in Kooperation mit der syrischen Armee zugestimmt.

Der PLO-Vertreter Ahmed Majdalani teilte die Entscheidung auf einer Pressekonferenz mit. Er sagte, 14 palästinensische Organisationen in Syrien hätten sich nach intensiven Beratungen für diesen Weg entschieden. Die Führung der PLO in Ramallah teilte dann allerdings am Donnerstag abend mit, dass die PLO am Prinzip ihrer Nichteinmischung in die Angelegenheiten eines »Gastlandes«, wie es Syrien ist, festhielte und ein gemeinsames militärisches Vorgehen gegen Daesch in Jarmuk ablehne.

Etlichen der rund 18.000 Zivilisten in Jarmuk war in den vergangenen Tagen die Flucht aus dem Lager gelungen. Der Syrische Arabische Rote Halbmond evakuierte rund 2.500 Bewohner in die benachbarten Orte Babila, Yelda und Beit Sahem und versorgte sie dort mit Unterstützung des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mit Lebensmitteln, Trinkwasser und Medikamenten.

* Aus: junge Welt, Samstag, 11. April 2015


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