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Kobani unter Belagerung

Dschihadistische Großoffensive gegen kurdische Autonomie im Nordosten Syriens

Von Nick Brauns *

Seit drei Wochen hält eine Offensive von dschihadistischen Kämpfern der aus Al-Qaida hervorgegangenen Gruppe »Islamischer Staat im Irak und Syrien« (ISIS) gegen die Rojava genannten kurdischen Siedlungsgebiete im Nordosten Syriens an. Die Angriffe richten sich schwerpunktmäßig gegen die nordöstlich von Aleppo an der türkischen Grenze gelegene Stadt Kobani (Ain Al-Arab) und die arabischen und kurdischen Dörfer im Umland. Kobani bildet den kleinsten der drei mehrheitlich kurdisch besiedelten Kantone, in denen sich im Januar Autonomieregierungen unter Einbeziehung der ebenfalls in Rojava lebenden christlichen und arabischen Bevölkerung gebildet hatten. Demgegenüber wollen die Dschihadisten, die die säkular orientierten Kurden als Ungläubige betrachten, hier ein islamisches Emirat ausrufen. Vor Beginn der jetzigen Offensive hatte ISIS seine in anderen Landesteilen Syriens kämpfenden Einheiten in den nordsyrischen Städten Raqqa, Dscharablus und Tall Abyad zusammengezogen. Offenbar fand zuvor eine Einigung mit konkurrierenden Gruppierungen wie der ebenfalls zu Al-Qaida gehörenden Al-Nusra-Front und der Islamischen Front über die Aufteilung der Gebiete statt. Die ISIS-Kämpfer konnten ungestört von syrischen Regierungstruppen kontrollierte Gebiete durchqueren. Dies führt auf kurdischer Seite zu Spekulationen, wonach die Konzentration der Dschihadisten auf Nordsyrien und die Schwächung der kurdischen Selbstverwaltung von Seiten der Baath-Regierung stillschweigend begrüßt wird.

Strategisches Ziel der Angriffe auf Kobani sei es, die Verbindung zu den beiden anderen selbstverwalteten Kantonen Afrin nördlich von Aleppo und dem an den Irak grenzenden Cizire zu kappen, warnt der Vorsitzende der unter den syrischen Kurden führenden Partei der Demokratischen Einheit (PYD), Salih Muslim. Schon jetzt sind viele Straßen zwischen den Kantonen unpassierbar, da ISIS-Kämpfer durchfahrende Zivilisten als Geiseln oder als lebende Schutzschilde verschleppen.

Die Kämpfe um Kobani, bei denen die Islamisten auch Panzer einsetzen, haben bereits Hunderte Menschenleben gekostet. Mehrheitlich handelt es sich um Islamisten. Aber auch die Volksverteidigungskräfte YPG, in deren Reihen neben Kurden auch Araber und Assyrer kämpfen, haben Verluste erlitten. Die YPG hat angesichts der massiven Bedrohung zur Generalmobilmachung aufgerufen. Die kurdischen Parteien in allen Teilen Kurdistans müßten nun ihre Differenzen beilegen und ihrer »nationalen Pflicht« bei der Verteidigung Rojavas nachkommen. Selbst einige Einheiten der zur syrischen Opposition gehörenden Freien Syrischen Armee kämpfen inzwischen an der Seite der YPG gegen ihre früheren islamistischen Verbündeten.

Pässe getöteter oder gefangener ISIS-Kämpfer zeigen, daß diese unter anderem aus Saudi-Arabien, dem Jemen, Algerien, Tunesien, Libyen, Kanada, Dänemark, Frankreich, Deutschland, der Türkei, Tschetschenien und der kurdischen Autonomieregion im Nordirak stammen. Viele der ausländischen Dschihadisten sind über die Türkei nach Syrien eingereist. Ankara unterstützte zumindest bis 2013 die Al-Qaida-Gruppen im Kampf gegen die kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen entlang der syrisch-türkischen Grenze. Die Bevölkerung von Kobani hat sich durch Flüchtlinge aus anderen Landesteilen auf rund 700000 verdreifacht. In der belagerten Stadt bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an, warnt Sulayman Xelil, der Verantwortliche der Kantonalregierung für humanitäre Hilfe. So reiche das Mehl nur noch für wenige Wochen. Zudem fehlt es an Medizin, Zelten und Betten für die Flüchtlinge. Die Türkei hält ihre Grenze bis auf einen einzigen Übergang in die türkische Provinz Urfa geschlossen. Der Kantonalpräsident von Kobani, Enver Müslim, appelliert daher an die internationale Gemeinschaft, Druck auf die Türkei auszuüben, damit weitere Grenzübergänge für humanitäre Hilfe und Hilfsorganisationen geöffnet werden. Zudem müsse die Türkei gezwungen werden, endlich die logistische Unterstützung für die dschihadistischen Banden einzustellen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 28. März 2013


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