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Kurden rufen Autonomie aus

Kantonalregierung für kurdische Region in Syrien gebildet – Kobani unter Belagerung

Von Nick Brauns *

Während die Kurden als größte ethnische Minderheit Syriens bei der Genf-II-Konferenz durch das Veto von USA und Türkei mit keiner eigenständigen Delegation vertreten sind, wurden in den Rojava genannten kurdischen Siedlungsgebieten vollendete Tatsachen geschaffen. Für die an die Türkei und den Irak grenzende Region Cizire wurde am Dienstag die »demokratische Autonomie« ausgerufen. Von einer aus 52 Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie einer Reihe von unabhängigen Persönlichkeiten bestehenden sogenannten gesetzgebenden Versammlung in der Stadt Amude wurde eine Kantonalregierung gebildet. Die Cizire ist der bevölkerungsreichste Teil Rojavas. Hier liegt die mit geschätzten 400000 Einwohnern größte Stadt der kurdischen Gebiete Syriens, Qamischlo. Dort sind als einziger Stadt der Region neben den mehrheitlich kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG noch Truppen der syrischen Regierung stationiert, die den Flughafen kontrollieren. Zur Cizire gehören auch Syriens größte Ölfelder bei Rumalan, die derzeit unter dem Schutz der YPG stehen.

Großer Wert wurde auf die Einbindung der arabischen und christlichen Minderheit in das Autonomieprojekt gelegt. So erhielt der kurdische Kantonsvorsitzende Ekrem Heso mit Eli­zabet Gewriye und Husen Ezem Stellvertreter assyrischer bzw. arabische rHerkunft. Auch jedem der 22 Minister werden zwei Berater aus den anderen ethnischen Gruppen beigeordnet. Neben dem unter der Baath-Herrschaft in Schulen und am Arbeitsplatz noch verbotenen Kurdisch wurden Arabisch und das von christlichen Minderheiten gesprochene Aramäisch zu Amtssprachen erklärt. Außer der in Rojava führenden Partei der Demokratischen Union (PYD), einer Schwesterorganisation der in der Türkei für die Rechte der Kurden kämpfenden Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, sind kleinere linke und liberale Parteien am Projekt der demokratischen Autonomie beteiligt. So gehört der neue Außenminister Salih Gedo der sozialdemokratisch orientierten Linksdemokratischen Partei Kurdistans an. Kräfte, die dem Präsidenten der kurdischen Regionalregierung im Nordirak, Masud Barsani, nahestehen, boykottierten dagegen das Autonomieprojekt. Auch in den beiden anderen mehrheitlich kurdisch besiedelten syrischen Kantonen Afrin nördlich von Aleppo sowie Kobani (Ain Al-Arab) sollen solche Kantonalregierungen gebildet werden. Bis Mai sind hier Wahlen zu einem Selbstverwaltungsrat vorgesehen, aus dem eine gemeinsame Regierung für Rojava hervorgehen soll. In einem bereits Anfang Januar auf einer Versammlung von Parteien und Organisationen verabschiedeten »Gesellschaftsvertrag« für Rojava wird betont, daß die demokratisch-autonome Verwaltung Teil eines zukünftig zu bildenden dezentralen syrischen Staates sein soll. Der Gesellschaftsvertrag schreibt zudem die Rechte aller ethnischen und religiösen Gruppen sowie die Garantie von Menschen-, Arbeiter-, Kinder- und Frauenrechten vor.

Unterdessen warnen Vertreter der Hilfsorganisation Kurdischer Roter Halbmond in der Stadt Kobani vor einer humanitären Katastrophe. In den letzten Wochen sind Tausende Menschen vor den Kämpfen zwischen Al-Qaida-Milizen und anderen Verbänden der syrischen Opposition in die von den YPG verteidigte Stadt geflohen. Da die Dschihadisten die Zufahrtsstraßen kontrollieren und die Türkei ihre Grenzen geschlossen hält, können keine Nahrungsmittel mehr nach Kobani gelangen. Wie die PYD mitteilte, haben Dschihadisten inzwischen auch die Wasserversorgung unterbrochen. Al-Qaida-Kämpfer drohten den Arbeitern im Wasserwerk der Nachbarstadt Jarablus, sie zu töten, wenn sie Wasser nach Kobani leiteten.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 23. Januar 2014


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