Selbstverwaltung mit allen Kräften
Das Buch "Revolution in Rojava" liefert detaillierte Hintergründe zum kurdischen Freiheitskampf
Von Elmar Millich *
In einer Kooperation der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Kampagne Tatort Kurdistan ist das Buch »Revolution in Rojava – Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Embargo und Krieg« erschienen.
Im Mai 2014 reisten Anja Flach, Ercan Ayboğa und Michael Knapp für vier Wochen nach Cizire im Norden Syriens, einen der drei selbstverwalteten Kantone des kurdischen Rojava. Als Ergebnis zahlreicher Gespräche und dem Besuch von verschiedenen Einrichtungen entstand ein tiefer Einblick in die Philosophie und Praxis der kurdischen Selbstverwaltung. Sie war in den letzten Monaten auf Interesse gestoßen, weil die Bewohner der Region sich erfolgreich gegen den Angriff des »Islamischen Staates« verteidigten.
Die Entwicklung und die Situation in Rojava werden umfassend dargestellt, da die Autoren nicht nur ihre Eindrücke vor Ort wiedergeben, sondern auch umfassende Quellen mit einbeziehen. Dadurch widerlegen sie kursierende Falschmeldungen, etwa die von den offiziellen Medien und der innerkurdischen Opposition geäußerten Vorwürfe, die Übernahme der Macht in den syrisch-kurdischen Gebieten sei das Resultat eines Geheimabkommens zwischen der in Rojava führenden PYD »Partei der demokratischen Union« und der Assad-Regierung.
Die »Revolution in Rojava« bedurfte langer klandestiner Vorarbeit der kurdischen Freiheitsbewegung. Dazu sagte die PYD-Kovorsitzende Asya Abdullah: »Vor dem Beginn der Revolution hatten wir sowohl als Partei als auch als Bewegung allgemeine Versammlungen abgehalten und uns auf Kongressen über unsere Vorstellungen vom Wandel auseinandergesetzt. Auf Volksversammlungen wurden die Ansichten der Bevölkerung gehört. Wir analysierten eingehend die Lage im Mittleren Osten und in Syrien […]. Anschließend veröffentlichten wir als kurdische Bewegung in Westkurdistan unser Projekt der demokratischen Autonomie.«
Die Selbstverwaltung in Rojava erweist sich als komplexes Zusammenspiel von Räte- und repräsentativen Strukturen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen. Dabei sorgen die Vielzahl der Abkürzungen oft bei Außenstehenden für Verwirrung. Die Rätestruktur besteht aus dem Volksrat von Westkurdistan, der sich wiederum in vier Untergliederungen, beginnend von den Kommunen bis zur Vertretung von ganz Rojava, aufteilt und seine Arbeit in verschiedenen thematischen Kommissionen strukturiert. Im Januar 2014 wurde dann in den drei Kantonen Cicire, Kobani und Afrin die demokratische Autonomie ausgerufen. Vor allem deshalb, um außenpolitisch handlungsfähig zu sein, wurden in den drei Kantonen Übergangsregierungen gebildet, die mit den Rätestrukturen eng zusammenarbeiten. Wahlen zur Legitimation dieser Übergangsregierung konnten bislang, aufgrund der Kriegssituation, nicht durchgeführt werden. Dies ist der Hauptkritikpunkt der innerkurdischen Opposition und westlicher Staaten.
Das Zusammenspiel mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen, unter Einbeziehung aller ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen, stellt einen schwierigen Spagat dar, dem die Autoren in ihren Ausführungen viel Raum geben. Ebenso den konkreten politischen Maßnahmen und aktuellen Schwierigkeiten, etwa in den Bereichen Bildung, Gesundheitssystem, Ökonomie und Verteidigung. Dadurch, dass oft die direkten Aussagen der Verantwortlichen wiedergegeben werden, wird das Ringen um die Lösung vordergründig rein technischer Fragen für den Leser lebendig.
Wie schon im Titel ausgeführt, wird auf die Organisierung und gesellschaftliche Beteiligung von Frauen in vielen wiedergegebenen Gesprächen ausführlich eingegangen. Dazu wiederum Asya Abdullah: »Schauen Sie sich die vermeintliche Opposition in Syrien an. Sie werden so gut wie keine Frau unter ihnen finden. Ich frage mich, was für eine Revolution sie durchführen wollen, in der nicht alle Teile der Gesellschaft vertreten sind.«
In den letzten Buchabschnitten werden die Verhältnisse geopolitisch eingeordnet, unter Einbeziehung der für die Entwicklung in Syrien und Rojava maßgeblichen Kräfte. Die Interessen sowohl der westlichen Staaten als auch der Akteure im Mittleren Osten, hier vor allem der Türkei und der kurdischen Autonomieregierung im Nordirak, werden dargestellt. Wertvolle Informationen werden auch über das Zusammenspiel der innersyrischen und innerkurdischen Oppositionskräfte mit diesen ausländischen Akteuren geliefert.
»Revolution in Rojava« bietet eine Innenansicht der kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen und viele Informationen über deren Entwicklungsgeschichte. Auch unter dem Aspekt, dass die deutsche Bundesregierung die PYD nach wie vor als autoritäre demokratiefeindliche Organisation ansieht, liefert das Buch wertvolle politische Argumente für die Solidarität mit Rojava.
Anja Flach, Ercan Ayboğa, Michael Knapp: Revolution in Rojava. Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo, vsa:Hamburg 2015; 352 Seiten, 19,80 Euro; ISBN 978-3-89965-658-9
Das Buch als pdf-Datei:
www.vsa-verlag.de
* Aus: junge Welt, Montag, 8. Juni 2015
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