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Zivilisten leiden besonders

Kommission des UN-Menschenrechtsrats legte Bericht zu Syrien vor

Von Marc Engelhardt, Genf *

Die Belagerung von Wohngebieten und die Bombardierung ziviler Ziele verschlimmern die Lage in Syrien weiter. Das geht aus dem Bericht einer UN-Untersuchungskommission hervor.

Paulo Pinheiro hat eine schwere Aufgabe. Seit zweieinhalb Jahren beobachten er und seine drei Kollegen in einer unabhängigen Untersuchungskommission die Lage in Syrien. Die Regierung in Damaskus verweigert der vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzten Kommission bis heute die Einreise. Doch das, was 563 Flüchtlinge und Zeugen den UN-Experten alleine in den vergangenen sechs Monaten berichtet haben, reicht aus, um ein Bild der Lage im Land zu zeichnen, das seit drei Jahren vom Bürgerkrieg zerrissen ist. Es ist ein Bild des Grauens.

Pinheiros Problem: schon aus den bisherigen sechs Berichten sind kaum Konsequenzen gezogen worden. Und beim siebten Report, den er gestern in Genf vorstellte, wird es wohl kaum anders sein. »Die Ergebnisse der Syrienkonferenz in Genf zeigen, dass kein Ende des Kriegs in Syrien in Sicht ist», sagt Pinheiro. Fast noch schlimmer scheint, dass beide Seiten – Regierungstreue wie Rebellen – mit bisher absoluter Straflosigkeit Kriegsverbrechen verüben. Dafür, dass das möglich ist, gibt Pinheiro dem UN-Sicherheitsrat Mitverantwortung. Denn der kann sich bis heute nicht auf die von der Kommission wiederholt geforderte Einschaltung des Internationalen Strafgerichtshofs einigen.

Kopfzerbrechen bereitet Pinheiro vor allem die starke Zunahme der Belagerung von Wohngebieten, die dabei von der syrischen Armee bombardiert werden. Mindestens eine viertel Million Syrer soll derzeit auf diese Weise eingeschlossen sein. »Die Verweigerung von humanitärer Hilfe, Nahrungsmitteln und grundlegenden Bedürfnissen wie medizinischer Versorgung und Trinkwasser hat die Menschen dazu gezwungen, zwischen Hungertod oder Kapitulation zu wählen«, beklagt Pinheiro. Hungertode, Massensterben und Unterernährung seien die Folge. »Millionen von Syrern leben in Enklaven und sie haben keine Chance, der Gewalt zu entkommen.»

Überhaupt spielen zivile Ziele im Bürgerkrieg eine immer größere Rolle. Pinheiro zufolge werden Krankenhäuser und Schulen angegriffen. Alle genießen nach dem Völkerrecht einen besonderen Schutz, doch niemand schert sich darum. Kinder werden – von beiden Seiten – immer häufiger als Soldaten rekrutiert. Als Kriegsgefangene werden sie gefoltert und nicht anders behandelt als Erwachsene – auch das ein Bruch humanitären Rechts.

In drei Fällen hat Pinheiros Kommission den Einsatz des Kampfgases Sarin nachweisen können. Dieses habe eindeutig aus syrischen Armeebeständen gestammt, sagt er – allerdings: Wer diese Chemiewaffe eingesetzt hat, konnte die Kommission nicht feststellen. Die Lage in Syrien ist dafür zu verworren, auch wenn klar ist, dass die Täter immenses Know-how über den Umgang mit dem Nervengas gehabt haben müssen.

Als besonders grausam hebt Pinheiro den Einsatz von Fassbomben hervor – mit Sprengsätzen und Metall gefüllte Fässer. Der Einsatz von Fassbomben in Aleppo habe Angst und Schrecken in der Zivilbevölkerung ausgelöst. Hunderte Zivilisten seien ums Leben gekommen. Dass systematischer Mord, Folter, Vergewaltigungen und Verschleppungen in Syrien fast schon zum Alltag gehören, droht vor diesem Hintergrund fast schon unterzugehen. Die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen im Syrienkonflikt ist unterdessen auf über vier Millionen gestiegen. Trotz der mangelnden politischen Fortschritte wollen Pinheiro und die anderen Kommissare ihr Mandat, das Ende März ausläuft, verlängern lassen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 6. März 2014


Leben ohne Zukunft

Aus dem syrischen Homs Geflüchtete schildern Zustände in der umkämpften Altstadt

Von Karin Leukefeld, Homs **


Es ist, als sei ich neu geboren«, sagt ein junger Mann, der mit 14 anderen als vorerst letzte Gruppe die Altstadt von Homs verlassen durfte. Die syrisch-orthodoxe Kirche konnte durch Vermittlung des Jesuitenpaters Francis und mit Unterstützung des Gouverneurs die Kämpfer im Viertel Bustan Al-Diwan überzeugen, die Menschen ziehen zu lassen.

Unter ihnen ist auch ein junger Mann, der sich als »Emad« vorstellt. Er fürchtet um sich und seine Familie, falls irgend jemandem nicht gefallen sollte, was er zu berichten hat, begründet er die Wahl eines anderen Namens. Ein Jahr und neun Monate hat »Emad« in Bustan Al-Diwan unter der militärischen Belagerung von Kämpfern und syrischer Armee verbracht. »Ich habe in völliger Dunkelheit gelebt«, berichtet er. »Ohne einen Lichtstreif, ohne Zukunft.« Dann legt er lächelnd den Arm um seine Frau, die neben ihm sitzt. »Sieben Jahre sind wir verheiratet und haben uns fast zwei Jahre davon nicht gesehen.« Als alles anfing, waren seine Frau und der inzwischen neunjährige Sohn zu ihrer Familie gezogen, die außerhalb der Altstadt wohnt. »Emad« blieb im Elternhaus, um sich um seinen 80jährigen Vater und seine Schwester (57) zu kümmern. »Wir hatten kein Geld, um uns außerhalb der Altstadt eine Wohnung zu mieten«, sagt er. »Es gab niemanden, der uns hätte unterstützen können.« Außerdem wollte er das Sportstudio schützen, das das Paar betrieben hatte. Wohnung und Sportstudio seien nicht zerstört worden, doch gebe es kein Leben mehr in Bustan Al-Diwan. Ohne die täglichen Telefonate mit seiner Frau hätte er die Zeit vermutlich nie überstanden.

Die Menschen in seinem Viertel hätten von allen Seiten unter Druck gestanden, erzählt der 34jährige weiter. Ständig wurde geschossen, Mörsergranaten schlugen ein. Die Straßen seien verlassen gewesen, aus Angst seien die Menschen zu Hause geblieben. Der Tagesablauf sei durch die Suche nach Essen und Wasser bestimmt gewesen, erinnert sich »Emad«. Von Anfang an habe es kein Gemüse, kein Obst, kein Lamm- oder Hühnerfleisch mehr gegeben. Am Ende hätten sie sich nur noch von Reis, Bulgur und Linsen ernährt. Bevor die Armee den Belagerungsring um die Altstadt geschlossen habe, hätten sie Nahrungsmittel und Medikamente vom Syrischen Arabischen Roten Halbmond erhalten. Da sie nicht alles gebraucht hätten, habe er ein Lager angelegt, so daß die Vorräte lange gereicht hätten. Die letzten zwei Monate habe es aber kaum noch etwas gegeben. »Manche Menschen bettelten, dann teilten wir, was wir hatten. Einige Kämpfer haben die Häuser überfallen und gestohlen, was sie kriegen konnten.« Wasser sei aus einem Brunnen geholt worden, die Pumpe hätten die bewaffneten Regierungsgegner kontrolliert. Er habe sich schmale Rohre besorgt und damit Wasser für das eigene Haus abgezweigt. Das Wasser sei rostig und unrein gewesen, sagt »Emad«, dennoch hätten sie es benutzt, denn »etwas anderes gab es nicht«. Auch der große Generator, der das Viertel zumindest stundenweise mit Strom versorgt habe, sei von den Kämpfern betrieben worden. Die Anwohner mußten mit Geld oder Diesel bezahlen. Weil er weder das eine noch das andere hatte, zapfte er heimlich die Hauptstromleitung an und legte ein Kabel in sein Haus. Als die Aufständischen das herausfanden, zerschnitten sie die Leitung. Drei Monate hätten sie keinen Strom gehabt und nur manchmal Kerzen.

Natürlich habe er Kontakt zu den Kämpfern gehabt, sagt »Emad«. Einige seien seine Nachbarn gewesen. Manche hätten ihn für einen Unterstützer der »Freien Syrischen Armee« gehalten. Doch nicht nur wegen seines christlichen Glaubens lehne er das Tragen einer Waffe ab. Darum hätten ihn die Kämpfer auch verdächtigt, ein »Spion der Regierung« zu sein, was ihm auch jetzt noch Sorge bereite. Unter den Kämpfern habe es gute und schlechte Leute gegeben, sagt er. Es gebe fanatische Islamisten, die ein Kalifat in Syrien errichten wollten. Andere hätten Familienangehörige verloren und wollten Vergeltung nehmen. Am Anfang hätten manche noch über politische Veränderungen geredet, doch später sei es nur noch um Rache gegangen. »Zuletzt wollten immer mehr Kämpfer ihre Waffen abgeben, weil sie nur noch den Tod gesehen haben«, sagt »Emad«. Als der Staat ihnen Sicherheit zugestanden habe, seien die Männer mit den Zivilisten geflohen. Sein Leben sei heute so ausweglos wie vor zwei Jahren. Er habe kein Geld und keine Arbeit. Die Kirche helfe ihm und seiner Familie, doch er habe Angst, ob sie alle jemals wieder ein normales Leben führen könnten.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 6. März 2014

Hintergrund: Hilfe für Syrien

Die UN-Organisation für humanitäre Hilfe (OCHA) schildert auf ihrer Internetseite (www.syria.unocha.org/map) den jeweils aktuellen Stand an Unterstützungsleistungen für Syrien. Auf einer interaktiven Karte ist zu erfahren, daß UN-Hilfskonvois in sechs der 13 syrischen Provinzen unterwegs sind: Idlib, Aleppo, Deir Ezzor, Hama, Homs und Deraa. Alle diese Konvois gehen in umkämpfte Gebiete. Die größte Zahl notleidender Menschen befindet sich laut OCHA in der Provinz Aleppo (2,4 Millionen) und im Umland von Damaskus (1,25 Millionen). Inlandsvertriebene sind in allen Teilen des Landes registriert, die meisten in den Provinzen Aleppo und Damaskus. Internationale Hilfsorganisationen sind in zehn Provinzen tätig. Die deutsche Organisation HELP arbeitet demnach in Damaskus und in Quneitra nahe der Grenze zu dem von Israel besetzten Golan. Die Vereinten Nationen arbeiten mit zehn UN-Organisationen in Syrien, darunter das Kinderhilfswerk und das Welternährungsprogramm. Landesweit unterhält die UNO zwölf Büros. Ein zentrales Lager für Hilfsgüter befindet sich in der Hafenstadt Tartus. Dort landen die meisten Schiffe mit Hilfsgütern an.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) arbeitet mit den Rotkreuz- bzw. Roter-Halbmond-Gesellschaften verschiedener Länder in Syrien, darunter auch der aus Deutschland. Hauptpartner ist der Syrische Arabische Rote Halbmond (SARC). Anfang Februar konnte ein Konvoi von 26 Lastwagen die ostsyrische Provinz Deir Ezzor erreichen und dort 8000 Pakete mit Nahrungsmitteln, Medikamenten, Hygieneartikeln und Haushaltsgegenständen verteilen. Der Inhalt eines Pakets reicht einer fünfköpfigen Familie für einen Monat. Seit lokale Waffenstillstände und »soziale Versöhnung« (siehe jW vom 1./2. März) im Umland von Damaskus zunehmen, konnten IKRK und SARC in vielen der bisherigen Kampfzonen in großem Umfang Hilfe verteilen. Der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Rudolf Seiters, besuchte mit einer Delegation am 21. und 22. Februar 2014 drei SARC-Zentren in Damaskus.
(kl)




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