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Massenproteste nach tödlichem Drill

Taiwaner fordern Aufklärung und Achtung der Menschenrechte beim Militär

Von Christian Selz *

Der Fall des zu Tode gequälten Soldaten Hung Chung Chiu wird für Taiwans Regierung immer mehr zur Belastungsprobe. Tausende sind in den vergangenen Wochen immer wieder auf die Straße gegangen. Vorrangig fordern sie Aufklärung über die vom Militär verschleierten Umstände des bereits drei Wochen zurückliegenden Todesfalls. Der Protest richtet sich inzwischen aber auch verstärkt gegen die Unentschlossenheit von Präsident Ma Ying Jeou .

Für Taiwans Militär kommt der Skandal zur absoluten Unzeit. Die Regierung versucht gerade, die 300000 Mann starken Streitkräfte vom Wehrpflichtsystem in eine Freiwilligenarmee umzubauen, findet aber nicht genug Bewerber. Daran konnte offensichtlich auch ein martialisches Armeemanöver mit Raketenwerfern und Panzern im Mai nichts ändern. Die Demonstration der Stärke – die größte ihrer Art seit Mas Amtsantritt 2008, zu der die Regierung ganz bewußt zahlreiche Journalisten eingeladen hatte – sollte mit fast 8000 Soldaten einen Angriff vom Meer simulieren. Geholfen hat die Kriegsschau – ein Wink mit dem Zaunpfahl zur angeblichen Bedrohung durch China – wenig. Schon vor dem Tode Hungs war klar, daß die Zahlen der freiwilligen Militärbewerber für die bis 2015 vorgesehene vollständige Umstellung des Rekrutierungssystems kaum ausreichen würden. Jetzt hat das Image der Streitkräfte noch mehr Schaden genommen. Vor allem die kaum kaschierten Vertuschungsversuche der Militärs bringen die Taiwaner seit Wochen auf die Straße.

Ihren bisherigen Höhepunkt fanden die Proteste am vergangenen Sonntag, als 30000 Menschen in der Hauptstadt Taipeh für eine unabhängige Untersuchung des Falls demonstrierten. Hung war taiwanesischen Medienberichten zufolge Ende Juni in ein Militärgefängnis geworfen worden, weil er ein Kamerahandy auf sein Kasernengelände gebracht hatte. Obwohl ihm dafür eigentlich nur eine geringe Strafe gedroht hätte, zwangen ihn seine Vorgesetzten zu einem brutalen »Übungsprogramm« in sengender Hitze. Am 3. Juli brach der 24jährige Rekrut dabei zusammen und starb am Tag darauf. Wie genau die Torturen aussahen, das ist allerdings bis heute ein Geheimnis der Militärs. Auf den Mitschnitten der Überwachungskamera fehlen genau die fraglichen 80 Minuten.

»Gerechtigkeit für die Familie des Opfers« forderten daher die Demonstranten in Taipeh, die von der Regierung zudem das Sicherstellen von »Menschenrechten im Militär« verlangten. »Ohne Wahrheit keine Vergebung« war auf Plakaten zu lesen. Staatschef Ma, der auch innerhalb seiner Nationalistischen Partei aufgrund schwacher Beliebtheitswerte nicht mehr unumstritten ist, sah sich offensichtlich zum Handeln gezwungen und wies vor allem den Chefankläger des Militärs, der noch am Montag »mehr Zeit« für seine Ermittler verlangt hatte, in die Schranken. Am Mittwoch gaben nun das Verteidigungsministerium und das Justizressort in einer gemeinsamen Pressekonferenz ihre Kooperation bei den Ermittlungen bekannt. Verteidigungsminister Kao Hua Chu gestand dabei schwere Verfehlungen im administrativen Prozeß, auf der militärischen Verantwortungsebene und bei der Notfallrettung ein.

Ma entschuldigte sich zudem am gleichen Tag mit einer tiefen Verbeugung bei der Familie des Opfers. Die unabhängige Untersuchung, die die Demonstranten fordern, ist all die Symbolik zwar nicht, für Ma aber womöglich ein gesichtswahrender Kompromiß. Wie lange der hält und wie sich die Protestwelle gegen den Präsidenten entwickelt, das dürfte nun vor allem von der Glaubwürdigkeit der Ermittlungsergebnisse abhängen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 26. Juli 2013


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