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Ein Millionenspiel

Auswirkungen der Globalisierung in Tansania exemplarisch untersucht

Nachfolgende Analyse, die sich globalisierungskritisch mit der Entwicklung des ostafrikanischen Staates Tansania befasst, haben wir der "jungen Welt" entnommen. Sie erschien in drei Teilen am 2., 3. und 4. Juli 2002.


Von Gerhard Klas*

Teil I: Privatisierung des Wassers

Weltweit mit dem blauen Gold handeln RWE aus Deutschland, Saur International und Vivendi aus Frankreich, Biwater aus Großbritannien sowie zahlreiche Unternehmen aus den USA. Ob Asien, Europa, Amerika oder Afrika, überall wollen die Global Player die öffentliche Wasserversorgung ihren betriebswirtschaftlichen Kalkulationen unterwerfen. Unterstützt werden sie von den internationalen Finanz- und Handelsorganisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der Welthandelsorganisation. Im Gegensatz zu Verkehrsmitteln, Telekommunikation oder Strom ist Wasserverbrauch jedoch ein existentielles Grundbedürfnis, ohne das kein Mensch leben kann. Nachdem es in Ländern wie Südafrika und Bolivien nach den mit den Privatisierungen einhergehenden Preiserhöhungen zu Massenprotesten und Straßenkämpfen gekommen ist, hoffen Wirtschaft und Politik bei dem »Leasing« der Wasserversorgung in Daressalam, der Metropole im ostafrikanischen Tansania, auf die erste Erfolgsgeschichte.

Die Familie Momila

»Meine Töchter sind dafür verantwortlich, Wasser aufzutreiben und auf ihren Köpfen herzutragen«, sagt Joseph Momila, »sie gehen dort hinauf, füllen einen Eimer, kommen zurück nach Hause, dann gehen sie wieder hinauf, bis wir genügend Wasser im Haus haben.« Adelphina heißt eine der Töchter, die noch in Joseph Momilas Haus in Temeke, einem Armenviertel in Daressalam, lebt. Weder Strom noch Wasseranschluß haben die mit Lehmziegeln gebauten und mit Wellblech abgedeckten Baracken in Keko Machungwa. Vom Haus der Momilas bis zur nächsten Wasserstelle sind es mehrere hundert Meter Entfernung. An manchen Tagen muß die 15jährige Adelphina zehnmal mit einem Wassereimer auf dem Kopf diesen Weg zurücklegen, bis die Familie mit Wasser versorgt ist. »Manchmal tut mir der ganze Körper weh, weil ich die schwere Last auf dem Kopf tragen muß«, beklagt sich die Jugendliche.

Besonders weit muß sie laufen, wenn ihr Vater die 20 tansanischen Schilling nicht aufbringen kann, die ein Eimer Wasser kostet. Ende des Monats, wenn es knapp wird, fehlt es selbst an diesen Beträgen. Dann muß seine Tochter bis zum Standrohr in das benachbarte Viertel gehen, in dem vor allem Polizeibeamte wohnen. Dort gibt es das Wasser umsonst, weil die Bewohner das Leitungsnetz ohne Genehmigung angezapft haben. Da sie selbst als Ordnungshüter arbeiten, kommt niemand auf die Idee, sie dafür zu belangen.

Nur wenn die Kasse stimmt, kaufen Josephs Töchter einen oder mehrere Zwanzigliterkanister für 50 bis 60 Schilling bei einem der fliegenden Wasserhändler, die täglich mit ihren vollgepackten Zweiradkarren durch den Stadtteil ziehen. Als Nachtwächter in Upanga, einem indischen Stadtteil in Zentrumsnähe, verdient Joseph Momila gerade einmal 30000 Schilling im Monat. Das sind umgerechnet etwas mehr als 30 Dollar. Fast ein Drittel muß der Mittvierziger für die zwei Zimmer der Familie bezahlen. Knapp 5000 Schilling im Monat kosten ihn die Fahrten zu seiner Arbeitsstelle. Knapp die Hälfte seines Einkommens bleibt für die Familie, und am Monatsende fehlt es oft am Nötigsten.

Nicht nur die Momilas leiden unter der schlechten Wasserversorgung in Daressalam. Aber da es in Keko Machungwa ein knappes Dutzend Standrohre gibt, gehört Familie Momila immerhin zu den 70 Prozent der geschätzten vier bis fünf Millionen Bewohner Daressalams, die laut Angaben der Weltbank »irgendwie Zugang zu Leitungswasser« haben. Doch wie die Töchter von Joseph Momila müssen viele täglich einige Kilometer zurücklegen, um ihren Tagesbedarf an Wasser zu decken.

Völlig abhängig von Zulieferern sind die neuen Bewohner der Millionenstadt, die vom Land in die Außenbezirke der Stadt gezogen sind und sich dort in Blech- und Holzhüttensiedlungen ohne jede Infrastruktur niedergelassen haben. Nach offiziellen Angaben wächst die Bevölkerung in Daressalam jährlich um eine zweistellige Prozentzahl, 1995 sollen es sogar 24 Prozent gewesen sein. In einigen dieser Siedlungen gibt es unter- oder oberirdische Wassertanks, die von einem der 16 zur Verfügung stehenden Lastkraftwagen täglich nachgefüllt werden. Aber auch Personenkraftwagen, die kleinere Wasserbehälter transportieren, sind ein häufiger Anblick in der Metropole, ebenso wie das letzte Glied in der Verteilungskette: Straßenverkäufer, die mit ihren zweirädrigen Handwagen, mit jeweils sechs Zwanziglitercontainern, umherfahren und Wasser zum Verkauf anbieten.

In der großen Regenzeit von April bis Juni wird auch die Abwasserentsorgung zu einem gravierenden Problem. Bis auf das Zentrum und einige Stadtteile, in denen Regierungsangehörige, Diplomaten und Geschäftsleute aus Japan, Europa und den USA leben, verwandelt sich Daressalam in eine Matschgrube. Die Hauptstraßen gleichen großflächigen Seen, die allenfalls noch mit Landrovern zu befahren und für Fußgänger nur mit Gummistiefeln zu überqueren sind. Das Schmutzwasser aus dem Zentrum und den Vierteln der Reichen wird über einen zentralen Abfluß in den Ozean entsorgt, allerdings ungeklärt. Über eigenständige Abwassersysteme verfügen außerdem der Flughafen und die Universität. Viel zu wenig für eine Stadt dieser Größenordnung. Auch die 19 verschiedenen Organisationen und Unternehmen, die Fäulnisbehälter und die Gruben von Latrinenklos leeren sollen, sind überfordert und können ihre Arbeit nicht adäquat ausführen. Dadurch entstehen gefährliche Krankheitsherde, die regelmäßig Cholera-Epidemien verursachen.

Auf Kosten des Volkes

»Wenn wir den Zustand der heutigen Wasserversorgung und Abwasserentsorgung betrachten, muß unser Hauptziel bei der Privatisierung sein, diese Dienstleistung zu verbessern«, meint Nshoya Magotti, der für die sogenannte Reformkommission des tansanischen Präsidenten arbeitet. »Wir glauben und hoffen, daß ein internationaler Betreiber mit einschlägigen Erfahrungen sowie neue Investitionen, die wir hineinstecken wollen, die Versorgungssituation der Bevölkerung entscheidend verbessern.« Magottis Reformkommission ist verantwortlich für die Privatisierung aller ehemaligen Staatsbetriebe und öffentlichen Dienstleister. Beim Aufbau der »Parastatal Sector Reform Comission« (PSRC) vor einigen Jahren stand das neoliberale Adam Smith Institute aus Großbritannien beratend zur Seite. Magotti ist bei der PSRC zuständig für die Privatisierung der Wasserversorgung in Daressalam. Diese steht zur Zeit noch unter öffentlicher und staatlicher Kontrolle und trägt den Namen DAWASA, Daressalam Water and Sewerage Authority. Der Internationale Währungsfonds hatte die Veräußerung von DAWASA zur Auflage für einen Teilerlaß der bei ihm angehäuften Schulden gemacht.

Insgesamt verwaltet die Wasserbehörde DAWASA ein Leitungsnetz von 824 Kilometern für die Wasserversorgung und 170 Kilometern für die Abwasserentsorgung in der Region. Magotti geht von fast 300 Millionen Litern täglicher Kapazität an Leitungswasser aus, von denen allerdings 30 Prozent durch undichte Leitungen auf dem Weg zum Endverbraucher verlorengehen. Das ist allerdings keine afrikanische Spezialität. Auch in deutschen Städten, die wie Düsseldorf oder Stuttgart über vergleichsweise alte Versorgungssysteme verfügen, gibt es bis zu 20 Prozent Wasserverlust. Die seit 1950 kaum gewarteten Systeme in Daressalam wurden durch die flutartigen Regenfälle im Zuge des El Nińo in den 90er Jahren zusätzlich stark beschädigt. Was dort derzeit aus dem Wasserhahn läuft, ist kein Trinkwasser, sondern muß vor dem Verzehr abgekocht werden.

Gründe für die schlechte Wasserver- und -entsorgung sind nach Ansicht Magottis neben den zahlreichen ungenehmigten Zapfstellen die viel zu niedrigen Konsumentenpreise, die nicht einmal die Kosten decken würden. Zudem gibt es kaum Zähler, um den Wasserverbrauch beziffern zu können. Die Endverbraucher, die einen regulären Anschluß haben, bezahlen eine Pauschale an die Wasserbehörde DAWASA, die sich nach einem Volumen von 28 Kubikmetern Wasserverbrauch pro Monat und Haushalt bemißt. Neben diesen Mißständen findet Magotti, daß bei DAWASA zu viele Arbeiter beschäftigt sind. Dies sei einer der Hauptgründe, warum die Wasserversorgung so unrentabel ist. Magotti erwähnt allerdings nicht, daß es erhebliche, zum Teil jahrelange Zahlungsrückstände staatlicher Institutionen und Ministerien gibt, die große Löcher in das Budget der öffentlich verwalteten Wasserversorgung gerissen haben. »Es ist notwendig, die Tarife zu erhöhen, aber wir erwarten keine großen Preiserhöhungen in den ersten fünf Jahren, das ist Teil des Vertrages«, behauptet Magotti.

Doch der streng vertraulich behandelte Vertragsentwurf der Reformkommission straft die Aussage des Mitarbeiters Lügen. Der Kubikmeterpreis für Wasser aus den Standleitungen soll schon im ersten Jahr nach der Übernahme durch den privaten Betreiber um ein Drittel ansteigen. Individuelle Endabnehmer können nur die ersten fünf Kubikmeter zu diesem Preis beziehen und die sind von einer durchschnittlichen tansanischen Familie schnell aufgebraucht. Jeder Tropfen Wasser, den eine Familie mehr verbraucht, wird mit einem Kubikmeterpreis von bis zu 505 Schilling berechnet, daß sind umgerechnet 60 Cent, und das ist fast doppelt so viel wie der heutige Preis.

Transparente Geheimsache

»Für gewöhnlich informieren wir die Weltbank über jeden Verhandlungsschritt«, erklärt Magotti. Wenn die Weltbank und die tansanische Regierung sich nicht einig seien, werde solange verhandelt, »bis wir zu einer Übereinkunft kommen.« Da die Wasserversorgung für eine Metropole wie Daressalam auch für private Unternehmen kein Kinderspiel ist, setzen Ministerium und Reformkommission auf den vermeintlichen Sachverstand der Weltbank, deren Vertreter, ein Franzose, bei allen Verhandlungen mit am Tisch sitzt und das letzte Wort hat. Drei Unternehmen sind in die engere Auswahl gekommen: Générale des Eaux und Saur International aus Frankreich sowie ein britisch-deutsches Joint-venture, bestehend aus Biwater und der in Frankfurt am Main ansässigen Beratungsfirma Gauff-Ingenieure.

»Der Unternehmer macht einen Gewinn, will einen Gewinn machen - anders kann er nicht überleben, hat aber auf der anderen Seite auch das Risiko zu tragen«, meint Jürgen Berthold, der Leiter der Gauff-Niederlassung in Daressalam. Um die Gewinne zu sichern, von denen er träumt, darf das Risiko allerdings nicht zu hoch sein. Für den größten Teil der Investitionen in die Wasserversorgung soll deshalb nach wie vor der öffentliche Träger, DAWASA, zuständig sein und sich dafür bei internationalen Kreditgebern hoch verschulden.

Bevor einer der neuen Bewerber sie übernimmt, muß die Wasserbehörde DAWASA noch 120 Millionen US- Dollar in die Verbesserung der Infrastruktur stecken. Das haben die Bewerber als Vorbedingung formuliert. Für die Rückzahlung der Schulden an die Kreditgeber - Weltbank, Afrikanische Entwicklungsbank, Europäische Investitionsbank und Französische Entwicklungsbank - ist allein DAWASA, der öffentliche Träger, verantwortlich. Die neue Partei im Geschäft mit dem Wasser, das private Unternehmen, wird in erster Linie Zähler bei den Endverbrauchern anbringen, für das Rechnungswesen und eine bessere Zahlungsmoral zuständig sein. Dafür müssen sie auch mit der in Tansania weitverbreiteten Ansicht aufräumen, Wasser sei ein öffentliches Gut und stehe deshalb allen kostenlos zur Verfügung.

»Es ist natürlich auch irgendwas Wahres dran, daß Wasser eben so zur Verfügung steht und von jedem genutzt werden kann«, sagt Berthold, »aber nicht immer dort, wo es gerade gebraucht wird«. Die Rechnung ist ganz einfach: Die Konsumenten sollen für den Transport bezahlen, denn die »Firma bringt das Wasser zu den Leuten hin. Und dieser Service muß eigentlich bezahlt werden.« Sollte dieser Appell nicht ausreichen, wollen die Betreiber deutlichere Mittel anwenden. Die deutschen Bewerber, Gauff-Ingenieure, die schon in mehreren afrikanischen Ländern Erfahrungen gesammelt haben, kündigen ein »konsequentes Vorgehen« an, sollten Endverbraucher ihre Rechnungen nicht zahlen. »Ganz klar müssen die abgetrennt werden, und zwar vom höchsten VIP bis zum kleinsten Mann - man muß konsequent sein, sonst klappt die Sache hinten und vorne nicht«, erklärt Berthold. Er will sich zwar bei sozialen Härtefällen für Ratenzahlungen stark machen. Doch sein Chef Wolfgang Chalet, Leiter der Afrika-Abteilung bei Gauff-Ingenieure, läßt keinen Zweifel daran, daß die Zahlungsmoral nur verbessert werden kann, wenn als letzter Schritt »rigoros das Wasser abgestellt« wird.

Von dem Unternehmen, das noch in dieser Jahreshälfte den Zuschlag bekommen wird, verlangen Weltbank und tansanische Regierung lediglich 2,5 Millionen US-Dollar Einstiegskapital und eine monatliche Mietgebühr von 50000 Dollar. Gemessen an der Neuverschuldung der Wasserbehörde DAWASA von über 120 Millionen US-Dollar sind das Peanuts. Zumal das Unternehmen für sein Engagement 70 Prozent der Endgebühren einstreichen darf. Ein Millionengeschäft: Bei einem Verbrauch von zirka 300 Millionen Litern täglich und der angekündigten Preiserhöhung beläuft sich der monatliche Umsatz, selbst bei Berücksichtigung der Wasserverluste durch undichte Leitungen, auf weit mehr als eine Million US-Dollar. Knapp 800000 US-Dollar sind für den Bewerber. Davon gehen Ausgaben für die Meßtechnik, das Rechnungssystem, die Miete und die mageren Gehälter für einen Teil der Beschäftigten ab. Für neue Leitungen, Instandhaltung und Verbesserung der bestehenden Systeme müssen 30 Prozent ausreichen, die DAWASA vom Umsatz erhält und mit denen die Behörde außerdem noch die neuen Schulden abbezahlen soll. Um den erhofften Reingewinn zu steigern, sind noch die bei Privatisierungen und Firmenübernahmen üblichen Einschnitte geplant: Massenentlassungen.

Wenn die Preise steigen ...

»DAWASA hat ungefähr 1400 Beschäftigte. Wir erwarten, daß DAWASA und der neue private Betreiber bis zu 700 von ihnen übernehmen und vielleicht die Hälfte der Leute draußen bleiben muß«, beschreibt der Regierungsmann Magotti ganz sachlich die Situation. Trotz geplanter Preiserhöhung und Massenentlassung, so versichert Magotti in Übereinstimmung mit der Weltbank, gelte es, die Verhandlungen so offen wie möglich zu führen und die Bürger zu beteiligen. Doch die Weltbank verschleppt abgesprochene Termine, und der zuständige Minister Edward Lowassa lehnt sogar jedes Interview zum Thema kategorisch ab. Dennoch behauptet Magotti, daß »der ganze Prozeß der Privatisierung transparent verhandelt« wird. »Wir haben ein Komitee, das mit allen Betroffenen besetzt ist: den Arbeitern und auch dem Management.«

Doch selbst zur Woche des Wassers, die in ganz Tansania seit vielen Jahren mit öffentlichen Veranstaltungen und Kundgebungen begangen wird, fand sich Mitte März nicht ein Nachrichtenbeitrag zu der anstehenden Privatisierung der Wasserversorgung in den Zeitungen. Und Julio Rutatina, Generalsekretär der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, beschwert sich, daß weder seine Gewerkschaft noch die Belegschaft von DAWASA über die anstehende Übernahme informiert, geschweige denn an den laufenden Verhandlungen beteiligt sei.

»Wir wissen nichts, denn die Vertreter der Weltbank haben mit der Regierung gesprochen, nicht mit den Arbeitern«, erklärt Rutatina. »Wir haben an keiner Verhandlung teilgenommen. Das Ganze ist eine Geheimsache zwischen der Weltbank und der Regierung«.

Ähnlich reagiert Joseph Momila, der Nachtwächter aus Temeke. Er fällt aus allen Wolken, als er von der geplanten Preiserhöhung für das Wasser hört. Er weiß nicht, woher er das Geld nehmen soll. In Temeke hat niemand die Bewohner nach ihrer Meinung gefragt, weder DAWASA oder die Reformkommission noch das zuständige Ministerium oder die so nachdrücklich auf Transparenz bedachte Weltbank. »Die Situation wird schwierig und ich werde mehr Geld brauchen«, sagt Momila. Der Nachtwächter denkt eine Weile nach. »Wenn die Preise tatsächlich steigen, wird es Proteste und Demonstrationen geben«.

Teil II: »Zukunftssektor Bildung«

Teure Grundschule

In den 80er Jahren vergab die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ihre ersten Kredite an Tansania. Dafür mußte das von einer massiven Wirtschaftskrise gebeutelte Land in Ostafrika versprechen, den Haushalt zu konsolidieren. Auch das Bildungsbudget wurde zusammengestrichen. Um die dadurch entstandenen Löcher zu stopfen, drängte die Weltbank darauf, Schulgebühren für die siebenjährige Grundschulerziehung einzuführen. Seit Anfang dieses Jahres, nach mehr als einer Dekade, hat die tansanische Regierung die Gebühren wieder abgeschafft. Mit Unterstützung der Weltbank, die sich heute die »Armutsbekämpfung« auf die Fahnen schreibt. Geholfen ist damit kaum jemandem, denn jetzt wird plötzlich offensichtlich, wie viele Eltern ihre Kinder wegen der Gebühren nicht in die Schule geschickt haben.

Nach Schätzungen des Erziehungsministers Joseph Mungai sind allein im Jahr 2001 mehr als 2,2 Millionen schulpflichtiger Kinder der Grundschule ferngeblieben, die nun in die Schulklassen drängen. Bis zu 400 Schüler quetschen sich in einen Klassenraum. Das Ministerium für Erziehung erwägt, Schultische und Stühle wieder abzuschaffen, die erst in den letzten Jahren von den Eltern finanziert worden sind. So soll Platz für die Kinder in den Schulräumen geschaffen werden. Wer Geld hat, schickt seine Kinder auf eine private Schule, und die überlasteten und unterbezahlten Lehrer der öffentlichen Lehreinrichtungen greifen immer häufiger zur Prügelstrafe.

30000 Tansanische Schilling, rund 30 Dollar, das ist weniger als der offizielle Mindestlohn, gelten in Daressalam als Durchschnittsverdienst. Für den Schulbesuch der Kinder bleibt also nicht mehr viel übrig: Bis Ende 2001 kosteten die Einschulung umgerechnet einen Dollar, fünf Dollar die Registrierung und zwei Dollar die monatlichen Schulgebühren. Hinzu kamen regelmäßige Kosten für Uniformen und Aufsichtspersonal. Im Rahmen der Kostenbeteiligung bei Anschaffungen mußten die Eltern nochmals tief in die Tasche greifen. Hinzu kommen die Schulbücher, für die Eltern mindestens drei durchschnittliche Tageslöhne bezahlen müssen. Mehrere Untersuchungen belegen, daß sich die durchschnittlichen Kosten pro Jahr und Kind auf fast 31000 Tansanische Schilling beliefen, ohne Verpflegung und Transportkosten. Bei mehreren Kindern mußte eine Familie umgerechnet 80 bis 100 US-Dollar für die Schulbildung aufwenden.

Horrende Summen für die meisten Familien, denn knapp die Hälfte der 32 Millionen Tansanier lebt unter der von der Regierung definierten Armutsgrenze von 0,65 Dollar am Tag. Auch nach der formalen Aufhebung der Schulgebühren müssen sich die Eltern nach wie vor an den Kosten für den Schulunterricht beteiligen. Offiziell sind das Verpflegung, Transport und Schuluniformen. In der Praxis müssen sie sich je nach regionalen Gegebenheiten auch noch am Ausbau von Schulen oder der Anschaffung von Mobiliar beteiligen. »Die Eltern müssen nun nicht mehr für Bücher, Hefte und Kreide bezahlen«, meint Erziehungsminister Mungai. Zusammen mit den abgeschafften Gebühren sei das eine große Entlastung, das Finanzierungsverhältnis hätte sich sogar umgedreht. »Vor der Reform zahlten die Eltern zwei Drittel der Kosten, heute nur noch ein Drittel, der Rest wird von der Regierung aufgebracht«, so Mungai.

Schöne Worte eines Ministers, der schon lange keine Schule mehr von innen gesehen zu haben scheint. Der Besuch in einer Grundschule auch in einem der wohlhabenderen Viertel Daressalams, dem indischen Stadtteil Upanga, läßt an seinen Aussagen zweifeln. Es gibt zwar jetzt einige kostenlose Schulbücher, die reichen aber gerade für das Lehrpersonal. Für die Schüler bleibt selbst an dieser vergleichsweise gut ausgestatteten Grundschule kein Buch übrig. Mehr Lehrmittel gibt es an den weiterführenden Schulen, aber fast niemand kann sich deren Besuch leisten. Eine »Secondary School« kostet unter staatlicher Verwaltung 40000 Tansanische Schilling, eine private gar 200000 bis 300000 im Jahr. Hinzu kommt, daß in den weiterführenden Schulen ausschließlich in englischer Sprache unterrichtet wird und die Schüler in den staatlichen Grundschulen nur Kiswahili sprechen. Tansania ist von den Ländern, die das Bildungsniveau ihrer Bevölkerung statistisch erfassen, das Schlußlicht. Nur sechs Prozent besuchen eine weiterführende Schule.

Prügelstrafe

Ohne Gebühren erscheint vielen Eltern nun wenigstens der Grundschulbesuch ihrer Kinder möglich. Jetzt gibt es ein Problem weniger, dafür aber viele andere mehr. Eigentlich hatte die Regierung geplant, zeitgleich mit der Streichung der Gebühren 14000 neue Klassenräume zu errichten und 9000 Lehrer einzustellen. Doch das ist bisher nicht passiert. Die Lehrer, die im Rahmen des vom Präsidenten abgesegneten UPE-Programms (Universal Primary Education) verpflichtet sind, alle vorstelligen Erstkläßler zu registrieren, sind verzweifelt. Zum Teil werden sie angehalten, doppelte Schichten zu arbeiten, um dem Ansturm gerecht zu werden. Schuldirektoren streichen die Unterrichtsstunden für die fortgeschrittenen Schüler zusammen, damit die Kleinen sich auf mehrere Räume verteilen können. Der Generalsekretär der Lehrergewerkschaft, Yahya Sulwa, ist der Ansicht, daß in überfüllten Klassen, in denen hundert Schüler keine Seltenheit sind, nicht angemessen unterrichtet werden kann. Bei den Lehrern brennt deshalb noch häufiger als sonst die Sicherung durch. Die Prügelstrafe, in Tansania gesetzlich zugelassen, darf in bestimmten Situationen mit der Genehmigung des Schuldirektors angewendet werden.

Aber selbst Erziehungsminister Mungai gesteht ein, daß es häufigen Mißbrauch gibt. Nach Angaben der UNICEF verläßt knapp ein Drittel der Kinder die Grundschule noch vor dem siebten Schuljahr. Einer der Hauptgründe, welche die UN-Kinderhilfsorganisation aufzählt, ist die Gewalt der Lehrer. Dazu gehören die Prügelstrafe, die massive Einschüchterung der Kinder und sexueller Mißbrauch. Untersuchungen der tansanischen Kinderrechtsorganisation Kuleana Ende der 90er Jahre ergaben, daß viele Lehrer die Prügelstrafe benutzten, weil sie »die schnellste und einfachste Methode der Disziplinierung darstellt«. Allerdings sei auch den meisten Lehrern bewußt, daß dies nicht die beste und effektivste Methode ist. »Wenn der Stock zu oft benutzt wird, verliert er seine Wirkung«, äußerte sich das Lehrpersonal gegenüber Kuleana. Die Kinder würden stur und verlören den Respekt vor den Lehrern.

Schüler wiederum berichten, daß ihnen keine Chance zur Stellungnahme gegeben wird, wenn ein Lehrer sie eines Vergehens beschuldigt. Bevor der Lehrer zuhören würde, schlüge er schon zu. Mit einer Rüge sind die meisten Schüler einverstanden, sollten sie sich falsch verhalten haben. Aber die Prügelstrafe verursacht Ängste vor Lehrern und Schule. Einige Schüler sind so verunsichert, daß sie sich nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren können. In einigen Fällen, so berichtet Kuleana, waren ganze Klassen derart eingeschüchtert, daß sich komplette Klassenverbände entschlossen haben, dem Unterricht fernzubleiben. Offiziell soll es eigentlich nur bei mehrfachem Fehlverhalten Prügel geben, z.B. wenn Schüler Lehrer angreifen oder beleidigen. Aber »kleine Vergehen«, so Sulwa, wie Verspätungen und falsche Antworten auf Fragen des Lehrers dürften nicht bestraft werden. »Wenn die Prügelstrafe im geregelten Rahmen durchgeführt wird, ist sie gar nicht so schlecht«, meint der Generalsekretär. »Auch ich habe die Prügelstrafe während meiner Schulzeit mitbekommen«, so Sulwa weiter, »damals als Schüler und heute als Vater weiß ich, daß sie auch ihre Vorteile hatte, weil die Lehrer sie damals nicht mißbräuchlich anwendeten«. Anders der Erziehungsminister Mungai, denn er beabsichtigt, die Prügelstrafe grundsätzlich zu überprüfen und gegebenenfalls abzuschaffen. Das wäre ganz im Sinne der Nichtregierungsorganisation Haki Elimu, die gegen die legale Prügelstrafe ins Feld zieht. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg.

Besser privat

Andere, z.B. Außenminister Jakaya Kikwete, setzen auf das Allheilmittel Privatisierung. »Der private Sektor sollte in Grundschulen, weiterführende Schulen und Universitäten investieren. Die Vorstellung, daß Investitionen in den Bildungssektor immer noch Aufgabe der Regierung wären, ist überholt«, erklärte er am 15.Januar auf dem Ostafrikanischen Wirtschaftsforum in Daressalam. Der Vorschlag ist nicht neu. Schon 1996 schickte die Weltbank knapp dreißig Berater nach Tansania. Sie sollten überall im Land die Bildungssituation eruieren und erhielten dafür jeweils ein Tageshonorar, das weit über dem Jahreseinkommen eines durchschnittlichen Tansaniers lag. Zu dieser Zeit, als das Bildungsbudget gerade einmal die laufenden Lehrergehälter abdeckte, kamen die Berater zu demselben Ergebnis wie heute der Außenminister. Sie schlugen die Privatisierung sämtlicher Grundschulen vor. Im Gegenzug sollte ein Fonds von 40 Millionen US-Dollar für die Eltern aufgelegt werden, die dann »frei« die entsprechende Schule für ihre Kinder auswählen könnten. Dieser Vorschlag wurde damals jedoch von der tansanischen Regierung abgelehnt.

Heute mischt sich Außenminister Kikwete mit seinem Vorstoß in das Ressort seines Kollegen Joseph Mungai, dem Erziehungs- und Kulturminister, ein. Mungai diskutiert schon länger mit der Lehrergewerkschaft CWT und zahlreichen NGO’s über Möglichkeiten und Grenzen privatwirtschaftlicher Unternehmen im Bildungssektor. Rakesh Rajan von Haki Elimu betrachtet das Engagement des Privatsektors mit kritischen Augen. »Die politischen Entscheidungsträger schicken ihre Kinder selbstverständlich auf Privatschulen, auch schon im Grundschulalter«, erklärt Rajan. Und auch die Eltern der schmalen Mittelschicht schulen ihre Kinder lieber in privaten Lehrinstituten ein. »Wer könnte es ihnen verdenken, daß sie eine gute Erziehung für ihre Kinder wollen«, fragt der Experte. Doch er registriert auch eine »gefährliche Entwicklung«: Das Engagement der Entscheidungsträger nähme in dem Maße ab, wie sie bzw. ihre Kinder nicht mehr auf öffentliche Schulen angewiesen seien.

Während in den größeren Städten Privatschulen, die sich oft in kirchlicher Trägerschaft befinden, wenigstens eine bessere Unterrichtsqualität anbieten, hat der Unterricht von Privatschulen im ländlichen Raum in der Regel nur ein sehr niedriges Niveau. »Einige wollen einfach nur Geschäfte machen«, beschwert sich Sulwa. »Wer eine Schule eröffnet, darf Uniformen, Bücher und Schreibhefte verkaufen. Das ist ein lukratives Geschäft«, erklärt der Generalsekretär der Lehrergewerkschaft das betriebswirtschaftliche Interesse an den Privatschulen. Lehrmittel und Uniformen verkaufen die privaten Betreiber, von denen einige aus dem Ausland kommen, für einen wesentlich höheren als den marktüblichen Preis.

Kaum Geld für Lehrer

Doch das machen auch viele Lehrer an öffentlichen Schulen, um sich ein Zubrot zu verdienen. Das Lehrergehalt ist niedrig. Berufseinsteiger bekommen mit 60000 Schilling zwar doppelt so viel wie der Nachtwächter Momila und können, steigen sie bis ins Direktorium einer Schule auf, bis zu 100000 Schilling verdienen. Aber auch das reicht für viele nicht zum Leben. Bis 1994 betrug der offizielle Mindestlohn in Tansania noch 84000 Schilling. Heute hat die Regierung ihn auf offiziell 46000 abgesenkt. »Sie sagen, die wirtschaftlichen Verhältnisse würden nicht mehr hergeben«, sagt Sulwa, der die mit Abstand größte Gewerkschaft im Lande vertritt. Nominal liegen nun auch die Berufsanfänger unter den Lehrern wieder über dem Mindestlohn.

Überhöhte Preise für Schuluniformen und Lehrmittel sind nur ein Weg, um das spärliche Gehalt aufzubessern. In der offiziellen Hauptstadt Dodoma sind Fälle bekannt geworden, in denen ein Schuldirektor Kinder von einer Grundschule gejagt hat, deren Eltern nicht bereit waren, eine von ihm eigenmächtig erhobene Gebühr zu bezahlen. Andere Lehrer geben im Anschluß an den offiziellen Unterricht private Nachhilfestunden für die Kinder, deren Eltern das Geld dafür aufbringen können. »Manchmal trifft man auch Lehrer, die sich als Straßenverkäufer ein Zubrot verdienen«, berichtet Sulwa.

Der tansanische Haushalt hat bisher mehr Geld für Schuldendienst und Militär verwendet als für Erziehung und Bildung. Auf der Begleichung des Schuldendienstes insistieren Weltbank und IWF, der Militärhaushalt wird verschont, weil, so die formale Begründung, die Ausgaben für das Militär der staatlichen Souveränität unterlägen. In der »Vision 2025«, einem 1999 verfaßten Zukunftsszenario aus der Planungskommission des Präsidenten Benjamin Mkapa, wird der Bildungssektor als derjenige mit der größten Bedeutung für die Zukunft Tansanias bezeichnet. Deshalb ist das Budget in diesem Jahr erstmals auf 25 Prozent des Gesamthaushalts angestiegen und soll nächstes Jahr noch vor dem Schuldendienst an die erste Stelle im Gesamthaushalt rücken. Ob es sich dabei um eine »nachhaltige Entwicklung« handelt, ist eine andere Frage. Denn ein nicht unerheblicher Teil des Bildungsbudgets, 50 Millionen Dollar von insgesamt zirka 300 Millionen Dollar, wird mit einem neuen Kredit der Weltbank finanziert, der über drei Jahre läuft und dann zurückgezahlt werden muß.

Vor allem die privaten Bildungseinrichtungen, die immer mehr Schüler aus der Mittelschicht in den staatlichen Schulen abziehen, sind für Rajan eines von vielen Anzeichen, daß sich eine Prophezeiung des späten Julius Nyerere erfüllt. Der verstorbene Expräsident sprach von »zwei Gesellschaften, die sich in Tansania entwickeln«. Auch der Mitarbeiter von Haki Elimu sieht eine »kleine Gruppe von Tansaniern, die Geld haben, in Supermärkten einkaufen können und beginnen, ein gutes Leben zu führen«. Doch das ist eine kleine Minderheit. Die Mehrheit der Bevölkerung ist von dieser Entwicklung ausgeschlossen und ihre Situation verschlechtert sich zusehends. »Zwanzig bis dreißig Prozent davon sind völlig verarmt und mehr und mehr desillusioniert, was die Zukunft in diesem Land ihnen bringen wird«, ergänzt Rajan. »In jeder Hinsicht handelt es sich um eine äußerst beängstigende Entwicklung. Selbst wenn einem die Rechte dieser Armen gleichgültig sind, ist es notwendig, über die sozial explosiven Konsequenzen nachzudenken«, schließt Rajan seinen Exkurs. Mit dem Engagement privater Geschäftsleute im Bildungssektor, so sein Resümee, wachse der Graben zwischen Arm und Reich in der tansanischen Gesellschaft.

Teil III: Arbeitskampf, NGOs und Gesellschaftskritik

»Soko holela« - »chaotischer Markt« heißt in der ostafrikanischen Regionalsprache Kiswahili, was in Europa und Nordamerika euphemistisch als »freie Marktwirtschaft« bezeichnet wird. In Tansania sind die Auswirkungen der »freien Marktwirtschaft« noch ziemlich frisch. Im Gegensatz zu Europa, wo sich eine neoliberale Wirtschaftspolitik über Jahrzehnte durchgesetzt hat, findet diese Entwicklung in dem ostafrikanischen Land im Zeitraffertempo statt. Auf Druck internationaler Kreditgeber soll so schnell wie möglich alles über den Verkaufstisch gehen: Wasser- und Stromversorgung, Ländereien, die Börse, Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, die nationale Fluglinie, die Eisenbahngesellschaft, die Hafenverwaltung sowie die staatliche Telefongesellschaft. Die besten Stücke des Kuchens versuchen sich ausländische Investoren, hauptsächlich aus den USA, Europa, Japan und Südafrika, einzuverleiben. In Tansania gibt es kaum kapitalstarke Investoren, die etwa ein gigantisches Unternehmen wie den nationalen Stromversorger TANESCO übernehmen könnten. Doch auch Wirtschaftssektoren, die längst in privater tansanischer Hand sind, sollen nun dem internationalen Konkurrenzdruck ausgesetzt werden.

Früher galt Tansania, das lange Zeit der 1999 verstorbene Julius Nyerere regierte, als Prototyp des afrikanischen Sozialismus. Nyerere führte diesen Begriff ein und verstaatlichte Ende der 60er Jahre die Gesundheitsversorgung, landwirtschaftliche Betriebe und die schwach entwickelten Schlüsselindustrien. Bis in die 70er Jahre hinein erhielt Tansania internationale Kredite auch aus dem Westen, zum Teil zu flexiblen Zinssätzen. Unter anderem finanzierte Nyerere damit das Engagement Tansanias im Kampf gegen das südafrikanische Apartheidregime. Mit den steigenden Zinsen während der Wirtschaftskrise Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre geriet Tansania in die Schuldenfalle. Die Situation wurde zusätzlich verschärft durch fallende Weltmarktpreise für Exportgüter aus dem Agrarbereich und mineralische Rohstoffe sowie steigende Importpreise für Industriegüter.

Während sich viele Länder daraufhin dem Diktat der Strukturanpassungsprogramme internationaler Kreditinstitutionen und damit dem Ausverkauf ihrer wirtschaftlichen Ressourcen unterwarfen, profilierte sich Tansania mit seinem charismatischen Präsidenten als vehementer Gegner dieser Politik. Doch die wirtschaftliche Situation erlaubte es Tansania nicht, diese Linie alleine durchzuhalten.

Der Wandel setzte 1985 mit dem Rücktritt Nyereres ein. Sein Nachfolger, Ali Hassan Mwinyi, einigte sich mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank über ein tansanisches Strukturanpassungsprogramm, setzte es aber nur teilweise um. Gleichzeitig häuften sich die Korruptionsaffären. Mitte der 90er Jahre mußte außerdem die einstmals vielversprechende Textilindustrie nach Spenden und Billigimporten von Altkleidern aus den USA und Europa ihren Bankrott erklären.

Die Führungsriege der nach wie vor regierenden Revolutionspartei CCM, die einst im antikolonialen Befreiungskampf entstanden war, ist heute ein williger Kooperationspartner des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Der amtierende Präsident Benjamin Mkapa präsentierte während der letzten Präsidentschaftswahl seine »wirtschaftlichen Erfolge« und griff die Opposition scharf an. »Einige haben uns kritisiert«, verteidigte sich Mkapa im Oktober 2000, »weil wir der Rückzahlung von Auslandsschulden Priorität geben. Sie versprechen, diese Zahlungen einzustellen. Aber man sollte sie fragen, wo sie die Kredite zur Finanzierung großer Entwicklungsprojekte hernehmen wollen.«

Die »wirtschaftlichen Erfolge« existieren auf dem Papier und nur für eine wachsende, vergleichsweise aber kleine Mittel- und Oberschicht, die gerade mal zehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Von einem »Durchsickern des Wohlstands« bis hin zu den Armen, das Befürworter der »freien Marktwirtschaft« gerne beschwören, kann in Tansania keine Rede sein. Für die Mehrheit der 32 Millionen Tansanier hat sich die Situation verschlechtert.

»Wenn ich etwas sage, machen vielleicht die Arbeiter Ärger«, begründet Edward Lowassa seine Weigerung, Fragen zur Privatisierung der Wasserversorgung zu beantworten. Lowassa ist Minister für Wasser und Viehhaltung und hatte im Februar in Washington ein Treffen, um dort mit der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und potentiellen Investoren über die Vergabe des zehnjährigen Leasingvertrages der Wasserversorgung in Daressalam zu verhandeln. Damit erfüllt er eine Auflage, die der IWF an einen Teilschuldenerlaß für die tansanische Regierung knüpft. Doch was bei der Wasserversorgung noch ansteht - Massenentlassungen und eine Preiserhöhung von mindestens 30 Prozent - hat in anderen Sektoren schon für erhebliche Unruhe gesorgt.

Edgar Maokola-Majogo, Lowassas Kabinettskollege aus dem Energieministerium, hat schlechte Erfahrungen mit den Arbeitern des staatlichen Energieversorgungsunternehmens TANESCO gemacht. Transparenz, für die Weltbank und andere Institutionen integraler Bestandteil einer »guten Regierungsführung«, hat sich im Falle von TANESCO für die tansanische Regierung nicht ausgezahlt. Als potentielle Käufer ankündigten, bei der Übernahme von TANESCO müßte die Hälfte der Belegschaft gehen, und als sich das Ministerium anschickte, die angesparten Pensionsfonds für die Abfindungen zu verplanen, platzte den Beschäftigten der Kragen. Einige von ihnen kündigten an, Generatoren, Leitungen und Umspannwerke zu zerstören, sollten die Pläne umgesetzt werden.

Zunächst schien der Minister einzulenken. Nun hat er die südafrikanische Firma Net Group Solutions damit beauftragt, das TANESCO-Management zu übernehmen. Weil das südafrikanische Unternehmen nach wie vor an den Massenentlassungen festhält, haben die Beschäftigten ihre Drohungen erneuert. »Ihr habt die Geduld der Regierung aufs äußerste strapaziert, es reicht«, echauffierte sich daraufhin Energieminister Maokola-Majogo. Die Regierung ließ Sondereinsatzkommandos der Polizei an allen größeren Knotenpunkten der Stromversorgung aufmarschieren. Kurzfristig wurde so eine Revolte verhindert, aber kein einziges Problem gelöst. Nun macht sich auch bei den Konsumenten Unmut breit, allein im März wurden die Strompreise um 30 Prozent erhöht.

Insgesamt aber sind die Gewerkschaften eher zahnlos. Ihre Loyalität gegenüber der ehemaligen Einheitspartei ist noch immer nahezu ungebrochen. Mit der Inkraftsetzung des Trade Union Act im Jahr 2000 wurden zwar die gesetzlichen Rahmenbedingungen etwas günstiger. Doch noch immer behält sich die Regierung das Recht vor, einer einmal zugelassenen Gewerkschaft die Genehmigung auch wieder zu entziehen. Erst allmählich entstehen Gewerkschaftsstrukturen, die den Spielregeln der formalen Unabhängigkeit gerecht werden. Im Mai 2001 gründeten viele der Einzelgewerkschaften ihren ersten unabhängigen Dachverband, den Trade Unions Congress of Tanzania (TUCTA). Seine Vorsitzende Margreth Sitta, die auch zugleich die Vorsitzende der Lehrergewerkschaft - mit 117000 Mitgliedern die größte im Lande - ist, kritisiert bisweilen die Regierung. Auch das Schicksal der TANESCO-Arbeiter scheint ihr am Herzen zu liegen. Sie weist die geplante Veruntreuung der Rentenfonds durch die Regierung zurück und tritt für Verhandlungen ein. »Wenn die Regierung den offenen Dialog mit den Arbeitern von TANESCO verweigert, widerspricht das den Gewerkschafts- und Menschenrechten«, mahnt sie.

Moslemische Minderheit

Nach dem 11. September ist es auch in einem Teil der vor allem in der Küstenregion stark verankerten moslemischen Minderheit unruhig geworden. Weniger, weil sie so fanatisch wäre - der größte Teil der moslemischen Glaubensgemeinschaften ist im regierungstreuen Dachverband BAKWATA organisiert. Aber auch im vergleichsweise friedlichen Tansania brechen im Fahrwasser der globalen Hysterie interreligiöse Konflikte auf, die trotz der rechtlichen Benachteiligung der moslemischen Organisationen längst vergessen geglaubt waren. Ein Teil der moslemischen Community, vor allem die unabhängigen Organisationen, steht heute unter Generalverdacht. Tatsächlich gibt es einige Straßenhändler, die T-Shirts mit dem Konterfei von Osama bin Laden verkaufen und wenige Jugendliche, die diese auch erwerben (können). Für diese Jugendlichen ist bin Laden ein Star, der es gewagt hat, die führende Weltmacht anzugreifen. Mit seiner fundamentalistischen Politik haben sie bisher wenig gemein. In die Arme seiner Anhänger könnten sie nur dann getrieben werden, wenn die Regierung fortfährt, mit Repression und neuen Gesetzen gegen die moslemische Community im allgemeinen vorzugehen und damit Vorurteile zu schüren. So verabschiedete die Regierung nach dem 11. September die »Bill Kadhi«, mit der sie ihre Kontrollbefugnisse über die moslemischen Organisationen ausweitet. Daß der Gesetzesentwurf von einem christlichen Minister in der Öffentlichkeit präsentiert wurde, empfanden viele Angehörige moslemischer Glaubensgemeinschaften als Provokation.

Andererseits gibt es Männer wie Scheich Nassor von der tansanischen Insel Sansibar, der Solidaritätsgebete und -demonstrationen für die Taliban organisierte, als die US-Army und die Royal Air Force begannen, Afghanistan zu bombardieren. Die Regierung geht gegen die unabhängigen Organisationen der Moslems hart vor. Bei einer Demonstration zum Gedenken an Glaubensbrüder, die bei einer Demonstration im Februar 2000 von der Polizei erschossen worden waren, kam es erneut zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, bei der Polizisten mit äußerster Brutalität gegen die Demonstranten vorgingen.

Schon vor dem 11. September, im Schatten der letzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Ende Januar 2000, kam es zu heftigen Übergriffen der Polizei auf die moslemische CUF-Partei, die auf der zu 95 Prozent von Moslems bewohnten Insel eine starke Anhängerschaft hat. Auch Todesfälle waren zu beklagen. In dem mittlerweile abflauenden Konflikt, in dem religiöse Unterschiede instrumentalisiert wurden, ging es nicht um unterschiedliche Vorstellungen zur Sozial- oder Wirtschaftspolitik. In diesem Punkt sind die Differenzen zwischen der sansibarischen CUF und der CCM marginal. Wie in anderen »Demokratien« geht es auch den Entscheidungseliten in den tansanischen Parteien vor allem um den privilegierten Zugang zu den Fleischtöpfen - nur, daß dort die Verteilungskämpfe wesentlich brachialer ausgetragen werden.

Auf Sansibar haben ausländische Investoren das Sagen. Die Sansibarer arbeiten in den Küchen der Restaurants oder als Diener in den Hotels, die vor allem Europäern gehören. Und auch der zweitgrößte Devisenbringer, der Handel mit Gewürzen, ist nahezu vollständig in ausländischer Hand. Angesichts der wirtschaftlichen Potenz dieser Investoren sind die meisten Politiker zu reinen Statisten degradiert, die mit einem für tansanische Verhältnisse guten Salär und Bestechungsgeldern ruhiggehalten werden.

NGO aus kirchlichem Spektrum

Stark von der lutherischen Kirche beeinflußt ist die Tanzania Coalition on Debt and Development (TCDD), die sich für eine Streichung der Auslandsschulden einsetzt. Ihre Mitglieder, zahlreiche Organisationen aus dem kirchlichen Spektrum und unabhängige Nichtregierungsorganisationen, darunter auch solche, die sich dem geistigen Erbe Nyereres verpflichtet fühlen, verfügen über gute wirtschaftspolitische Kenntnisse und genießen auch im Ausland als kompetente Ansprechpartner Ansehen. Die Mitglieder schreiben Expertisen und organisierten anläßlich des Besuchs von Weltbankpräsident James Wolfensohn und IWF-Direktor Horst Köhler im Februar 2001 auch Proteste. Beide waren nach Daressalam gekommen, um die führenden Vertreter der südafrikanischen Länder zu treffen. Knapp zwei Dutzend Aktivistinnen und Aktivisten trafen sich mit einigen Plakaten vor dem Versammlungsort. Kaum angekommen, trieb die Polizei sie wieder auseinander und nahm sieben von ihnen fest. Im Polizeigewahrsam seien sie verhört und geschlagen worden, beschwerten sich später die Gefangenen.

»Diese Nichtregierungsorganisationen sind kaum in der Bevölkerung verwurzelt, ihre Mitglieder wissen aber viel über ökonomische Zusammenhänge«, erklärt die vierzigjährige Rosemary Nyerere, eine der Töchter des verstorbenen Präsidenten Julius Nyerere. Sie besuchte im Januar das Weltsozialforum in Porto Alegre und wirkte dort beim »Schuldentribunal« mit, das für die bedingungslose Streichung der Auslandsverschuldung der »Dritten Welt« arbeitet. Außerdem ist sie seit mehr als einem Jahr Parlamentsabgeordnete für die Regierungspartei CCM. »Wer politisch etwas bewegen will, kommt an der Regierungspartei nicht vorbei«, begründet sie ihr Engagement. Nach wie vor sei die CCM die einzige Massenorganisation in Tansania, die selbst im hintersten Winkel des Landes über lokale Strukturen verfüge. Doch bis auf die Entscheidungselite in der Partei fehle es den Mitgliedern an Wissen über politische und wirtschaftliche Zusammenhänge, um effektiv handeln zu können.

HipHop-Szene

Dem könnte die enorm schnell wachsende HipHop-Szene, die auf Kiswahili gegen korrupte Politiker und brutale Polizeibeamte rappt und deren Musik von den großen privaten Radiostationen gespielt wird, Abhilfe schaffen. Bei einer Analphabetenrate von 28 Prozent ist die Wirkung dieser Sprechgesänge nicht zu unterschätzen: In fast allen Dalla-Dallas, das sind Kleinbusse und die einzigen Nahverkehrsmittel in Daressalam, läuft diese Musik. Viele Interpreten beschreiben die gesellschaftlichen Probleme Tansanias, einige versuchen auch, sie zu erklären. Wagosi Wakaya, ein Duo aus der Küstenstadt Tanga, rappt z.B. gegen die kostenpflichtige Gesundheitsversorgung und gegen den Alkoholmißbrauch von Jugendlichen.

Die gesellschaftskritischen Stimmen werden auch an der Universität von Daressalam laut. Der Soziologieprofessor Seithy Chachage reiste 2001 zum ersten Weltsozialforum ins brasilianische Porto Alegre, um dort mit Gegnern der neoliberalen Politik über eine andere Weltordnung zu diskutieren. Mehr als fünf Jahre gibt es in Tansania jetzt ein Mehrparteiensystem nach westlichem Vorbild - für Chachage ist damit keines der brennenden Probleme gelöst. Er hält es für ebenso gescheitert wie das vorherige Einparteiensystem. Letzteres kritisierte er schon in seiner 1986 in Glasgow fertiggestellten Doktorarbeit. Für ihn ist die Geschichte des Einparteiensystems in Tansania »Teil des Kampfes gegen die sozialen Bewegungen wie unabhängige Gewerkschaften, landwirtschaftliche Kooperativen und andere Formen der Opposition gegen Willkürherrschaft«. Die von oben »durchgesetzte Ideologie hat die Zivilgesellschaft gegenüber der Habgier des Kapitals wehrlos gemacht«. Die Konsequenz liegt für Chachage auf der Hand: »Die Menschen in Tansania haben verlernt, für bessere Lebensbedingungen zu kämpfen, sie zu verändern, zu beeinflussen oder effektiv zu kontrollieren.«

Heute existiert Demokratie zwar auf dem Papier. Doch im gesellschaftlichen Alltag hat sie kaum Bedeutung. Das ist auch nicht das primäre Interesse der »internationalen Gemeinschaft«. Besonders deutlich wird das bei Jenerali Ulimwengu, dem Verleger der Habari Corporations. Obwohl der 1948 in Tansania Geborene bis 1995 fünf Jahre Parlamentsmitglied für die Regierungspartei war, hat ihm die Regierung Mitte Februar die Staatsbürgerschaft aberkannt und ihn als staatenlos erklärt. In Ulimwengus Verlagshaus erscheinen die landesweit kritischsten Publikationen. In der englischsprachigen Tageszeitung The African und der vielgelesenen Kiswahili-Wochenzeitung Rai kommen im Gegensatz zu fast allen anderen Zeitungen auch mal demonstrierende Arbeiter zu Wort oder die Korruption in Regierungskreisen zur Sprache. Viele sehen in der Aberkennung der Staatsbürgerschaft für Ulimwengu einen Versuch der Regierung, sich unbequemer Zeitgenossen zu entledigen. Der Soziologieprofessor Chachage initiierte zusammen mit anderen eine Kampagne für den diskriminierten Verleger. Dadurch konnten sie zumindest seine Abschiebung verhindern. Wenngleich nahezu jede Zeitung in Tansania über die unwürdige Behandlung Ulimwengus berichtete, war von den Vertretern internationaler Organisationen und den Botschaftern aus Europa und den USA kein Wort der Kritik zu hören. »So sieht ihre Demokratie aus«, kommentierte ein Student der Rechtswissenschaften, »wenn die wirtschaftspolitischen Anforderungen erfüllt werden, darf unsere Regierung die Menschenrechte mit Füßen treten.« »Soko holela« heißt das auf Kiswahili, »chaotischer Markt«.

* Gerhard Klas ist Mitarbeiter des Rheinischen JournalistInnenbüros in Köln und besuchte Tansania von Januar bis April, um die Auswirkungen der »Globalisierung« zu untersuchen

Aus: junge Welt, 2., 3. und 4. Juli 2002


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