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"Menschenrechte gibt es seit dem Putsch nicht mehr"

Trotz Protesten fehlt es in Thailand an einer organisierten Opposition gegen das Militärregime. Gespräch mit Giles Ji Ungpakorn *


Giles Ji Ungpakorn ist ein thailändischer Marxist und lehrte bis zu seiner Flucht ins britische Exil nach dem Militärputsch 2009 an der Chulalongkorn-Universität in Bangkok.

Machtübernahmen durch die Armee sind in Thailand keine Seltenheit. Wie unterscheidet sich der Putsch vor 13 Monaten qualitativ von den vorangegangen?

Der Staatsstreich vom 22. Mai 2014 hat die politische Uhr um 50 Jahre zurückgedreht. Wir haben es heute mit einer Militärregierung zu tun, an deren Spitze ein Massenmörder steht. Generalissimus Prayut Chan-o-cha ist verantwortlich für die Erschießung von mindestens 100 demokratischen Demonstranten im Jahr 2010. Außerdem sind die Junta und die Sicherheitskräfte in den Menschenschmuggel mit muslimischen Rohingya-Flüchtlingen aus Myanmar und ihre Abschiebung verstrickt.

Verschiedene internationale Organisationen kritisieren die Verletzung der Menschenrechte. Wie steht es um Meinungs-, Demonstrations- und Gewerkschaftsfreiheit?

Menschenrechte gibt es seit dem Putsch nicht mehr. Leute, die friedlich gegen die Diktatur protestieren, werden verhaftet. Die Anzahl der Verfolgten ist seit Ausrufung des Kriegsrechts dramatisch angestiegen. All jenen, die sich vor Militärgerichten wiederfinden, werden jedwede Rechte verweigert. Selbst akademische Seminare wurden verboten. Aktivisten der Opposition wurden zur »Umerziehung« in Militärcamps verfrachtet oder bedroht.

Sind die jüngsten Studentenproteste ein Indiz für eine zunehmende Opposition gegen die Diktatur?

Diese Studierenden, die sich selbst »Neue Demokratische Bewegung« nennen, haben eine Kampfansage lanciert. In einer Erklärung, die sie am Tag vor ihrer Festnahme verlasen, riefen sie die Menschen auf, sich zu erheben. Für ihre friedliche Forderung nach Freiheit und Demokratie wurden sie vor ein Militärgericht gestellt. Aber natürlich folgt auf einen solchen Aufruf nicht automatisch ein Massenaufstand. Was wir unbedingt brauchen, ist Organisation. Aber die Oppositionsbewegungen wurden alle zum Schweigen gebracht. Die Rothemden etwa waren die größte prodemokratische soziale Bewegung in der Geschichte Thailands. Millionen einfacher Leute haben sich an den Protesten für eine Ausweitung der demokratischen Spielräume beteiligt.

Inwieweit haben der Tourismus und die Wirtschaft insgesamt unter dem Regime gelitten?

Die thailändische Wirtschaft steckt in ernsten Schwierigkeiten. Die Wachstumsrate fiel im letzten Jahr auf nur noch 0,7 Prozent. Investitionen, ein Schlüsselindikator für ökonomisches Vertrauen, schrumpften 2013 um zwei und 2014 um weitere 2,8 Prozent. Der Güterausstoß fiel 2014 um 4,6 Prozent und der Einzelhandelsumsatz um 6,1 Prozent. Im Mai 2015 sank die Produktion im Vergleich zum Vorjahresmonat sogar um 7,6 Prozent. Ursache ist die rückläufige Elektronik- und Automobilproduktion. Mehr als 1.300 Arbeiter in der Samsung-Fabrik in Korat wurden entlassen. Die Landwirtschaft wurde von einer schweren Dürre heimgesucht.

Und wie ist die Lage der Beschäftigten?

Die Militärjunta hat angekündigt, dass sie den nationalen Mindestlohn von 300 Baht (etwa 7,80 Euro) pro Tag, der von den vorherigen, demokratisch gewählten Regierungen eingeführt wurde, im nächsten Jahr streichen will. Statt dessen will sie in den einzelnen Provinzen unterschiedliche Mindestlöhne einführen, wie es die Fanatiker des freien Marktes bevorzugen. Heute, da die Exporte zurückgehen, kann eine Senkung der Kaufkraft der thailändischen Arbeiter die Dinge nur verschlimmern. Die Binnennachfrage würde durch niedrige Löhne gedrückt und könnte die Exportverluste nicht ausgleichen.

Das Wichtigste ist aber, dass diese Löhne schon jetzt viel zu niedrig sind, um den Beschäftigten einen guten Lebensstandard zu ermöglichen. Das Niveau der ökonomischen Ungleichheit in Thailand ist absolut inakzeptabel. Seit dem Putsch im letzten Jahr haben die Eliten sich selbst riesige Gehaltserhöhungen genehmigt und andere Vorteile verschafft. Die Militärausgaben sind dramatisch gestiegen. Gleichzeitig droht die Junta, dass die Menschen in Zukunft für die bislang kostenlose Gesundheitsversorgung zur Kasse gebeten werden.

Interview: Raoul Rigault

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 29. Juli 2015


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