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Sozialdemokraten fremdeln mit dem Prager Burgherrn

Wer fischt in Tschechien im Becken der Unzufriedenen?

Von Jindra Kolar, Prag *

In Tschechien hat der Wahlkampf begonnen. Doch die bisher als Favoriten geltenden Sozialdemokraten schwächeln. Ihre Wähler verübeln der stärksten Oppositionspartei, das Machtspiel von Präsident Milos Zeman mitgespielt zu haben. Davon profitieren neue Protestbewegungen.

Gerade hatte es noch so ausgesehen, als könnten Tschechiens Sozialdemokraten (CSSD) zum Wahlsieg schlafwandeln. Tatsächlich sehen die Umfragen einen Erfolg der linken Parteien bei den vorgezogenen Parlamentswahlen Ende Oktober voraus. Doch ganz so deutlich, wie es noch vor Tagen schien, scheint der Triumph vor allem der Sozialdemokratie nicht auszufallen.

Die CSSD kann freilich immer noch darauf zählen, wieder die stärkste Fraktion zu bilden. Jüngsten Umfragen zufolge dürfen die Sozialdemokraten mit 21 Prozent der Wählerstimmen rechnen. An zweiter Stelle folgt mit großem Abstand die Partei des ehemaligen Außenministers Karel Schwarzenberg, TOP 09, mit 10 Prozent. Auf den dritten Platz kämen die Kommunisten (KSCM) mit 9 Prozent. Die Demokratische Bürgerpartei ODS, die in den zwei Jahrzehnten seit der Spaltung der Tschechoslowakei die Prager Politik maßgeblich geprägt hat, muss mit einem dramatischen Niedergang rechnen. Bei den Parlamentswahlen 2010 mit 20 Prozent noch zweitstärkste Partei, kommt sie in einer Umfrage der Meinungsforscher von »ppm factum« jetzt nur noch auf 6 Prozent.

Sozialdemokratische Wähler ärgert indessen das Machtspiel des seit Februar agierenden Präsidenten Milos Zeman. Viele von ihnen hätten ohnehin lieber den eigentlichen Kandidaten der CSSD, Jiri Dienstbier, auf der Burg in Prag gesehen. Doch in der Stichwahl Ende Januar mussten sie für Zeman stimmen, um eine Präsidentschaft des fürstlichen Außenministers Schwarzenberg zu verhindern. Dann aber versuchte Zeman, seine »eigene« Regierung unter Jiri Rusnok zu installieren – Zeman wie Rusnok sind ehemalige Sozialdemokraten. Doch das Parlament begehrte auf und erzwang schließlich Neuwahlen.

Damit erhalten die Wähler Gelegenheit, ihre Meinung über das Intrigantenstadl an der Moldau abzugeben. Und die dürfte schlecht ausfallen. Schaut man auf die Zahlen der aktiven Parteimitglieder, handelt es sich angesichts von 8,4 Millionen wahlberechtigten Tschechen fast um Randgruppen. Die meisten Mitglieder verzeichnet immer noch die Kommunistische Partei – nämlich 51 000. Ihr folgen die Christdemokraten der KDU-CSL (31 968), die CSSD (22 748) und die ODS (21 601). Über nur 3600 Mitglieder verfügt Schwarzenbergs TOP 09, deren Parteikürzel für »Tradition, Verantwortung, Wohlstand« steht. Zemans SPOZ (Partei der Bürgerrechte – Zemans Leute) zählt 2760 Mitglieder. Die »Öffentlichen Angelegenheiten« (VV), Koalitionspartner der gestürzten bürgerlichen Regierung, und ihre Abspaltung Lidem (Liberaldemokraten) zählen gar nur 840 und 245 eingeschriebene Mitglieder.

Meinungsforscher und Politologen beobachten derweil einen Aufschwung kleinerer Bewegungen und Parteien. Dazu gehört vor allem die Aktion Unzufriedener Bürger (ANO) – eine geschickte Namenswahl, denn »Ano« heißt »Ja«. Deren Gründer Andrej Babis ist der zweitreichste Tscheche. Erst kürzlich kaufte er die Mediengruppe MAFRA, zu der die einflussreiche Tageszeitung »Mlada Fronta Dnes«, Nachrichtenportale, Rundfunk- und Fernsehsender gehören.

Auch die Bewegung »Usvit« (Morgendämmerung) des Senators Tomio Okamura, Sohn eines Japaners und einer Tschechin, kann sich Hoffnungen machen. Mit dem Versprechen, gegen die Korruption vorzugehen und eine »wirkliche Demokratie« zu installieren, sammeln diese Parteien Anhänger und Wähler aus dem großen Becken der Unzufriedenen.

Die könnten sich allerdings auch dazu entschließen, gar nicht zu den Urnen zu gehen. Denn die Straße ist längst davon überzeugt, dass auf den Regierungssitzen »nur eine korrupte Bande gegen eine andere« ausgetauscht wird. Manche Beobachter halten den vom Präsidenten erkorenen Wahltermin – 25. und 26. Oktober – für einen taktischen Schachzug: In Tschechien wird nicht am Sonntag, sondern stets Freitag und Sonnabend gewählt. Da am darauf folgenden Montag, dem 28. Oktober, der Jahrestag der Entstehung der selbstständigen Tschechoslowakei (1918) als Staatsfeiertag begangen wird, steht den Tschechen ein langes Wochenende bevor. Das könnten sie eher für einen Ausflug als für den Gang zu den Wahlkabinen nutzen. Profitieren würden davon doch noch Sozialdemokraten und Kommunisten. Ihnen wird zugetraut, ihre Wähler auf jeden Fall zu mobilisieren.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 28. August 2013


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