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Ein Neustart zwischen München und Prag

Bayerns Ministerpräsident Seehofer mit Premiere in Tschechien

Von Kilian Kirchgeßner, Prag *

Ein historischer Besuch, heißt es in Prag und München: Erstmals reiste ein bayrischer Ministerpräsident zu politischen Gesprächen nach Tschechien. Beide Seiten wollen ein neues Kapitel der Beziehungen aufschlagen, die Sudetendeutschen sollen nicht mehr zwischen den Nachbarn stehen.

Um die kritischen Themen haben sie letztlich einen weiten Bogen gemacht: Als der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer und der Prager Regierungschef Petr Necas nach ihrem Gespräch am Montag vor die Presse traten, erwähnten sie die Begriffe Sudetendeutsche und Benes-Dekrete kein einziges Mal. »Natürlich kamen wir nicht umhin festzustellen, dass es verschiedene Blickweisen auf unsere Vergangenheit gibt«, sagte Necas, »es herrscht jedoch der gemeinsame Wille, unsere Zusammenarbeit vor allem auf die Zukunft auszurichten.«

Diese pragmatische Formel wird von tschechischen Beobachtern als Durchbruch gewertet. Bislang ist eine enge politische Kooperation daran gescheitert, dass die Münchner Landesregierung die Vertreibung der Sudetendeutschen in den Mittelpunkt der Gespräche stellen wollte. Seehofer ist deshalb der erste bayerische Ministerpräsident seit Ende des Zweiten Weltkriegs, der offiziell das Nachbarland besucht. »Wir wollen jetzt ein neues Kapitel in unseren Beziehungen aufschlagen, und dazu haben wir heute den ersten Schritt getan«, betonte er nach seinem Gespräch mit Necas. Der Besuch in Prag sei »richtig und notwendig«.

Auf der Tagesordnung der zweitägigen Visite standen vor allem die wirtschaftlichen Beziehungen, zur offiziellen Delegation zählte mit dem Unternehmer Randolf Rodenstock ein Spitzenvertreter der bayerischen Wirtschaft. Trotz der politischen Streitfragen hat sich der Handelsaustausch zwischen Prag und München in den vergangenen Jahren sehr rege entwickelt. Seit 1993 haben bayerische Unternehmen 4,5 Milliarden Euro in Tschechien investiert. An diese Ergebnisse wolle man anknüpfen und sie weiter entwickeln, erklärte der Prager Regierungschef. Im dreiseitigen Kommuniqué, das Bayern und Tschechien zum Besuch verabschiedet haben, geht es vor allem um solche wirtschaftlichen Fragen sowie um den Ausbau der grenzüberschreitenden Infrastruktur. Das sudetendeutsche Problem wird in dem Papier nicht erwähnt.

Beobachter gehen davon aus, dass die bayerisch-tschechischen Beziehungen künftig pragmatischer sein werden. Wegen des Münchener Beharrens auf eine Rücknahme der umstrittenen Benes-Dekrete standen bislang vor allem politisch-ideologische Fragen im Mittelpunkt. Vergessen allerdings will Bayern bei aller Einigkeit in wirtschaftlichen Fragen die Debatte über die Vergangenheit nicht. »Wir haben uns ehrlich ausgetauscht und über die Themen gesprochen, die uns in der Vergangenheit beschäftigt haben. Zum Vertrauen gehört Ehrlichkeit«, sagte Seehofer. Auch weiterhin werde sich die bayerische Landesregierung als Schutzpatronin der Sudetendeutschen verstehen, wie das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Fall sei. Allerdings sollten die Streitfragen künftig nicht mehr die aktuellen Beziehungen belasten.

Im Vorfeld des Besuchs hat es in Tschechien wenig freundliche Kommentare zur Zusammensetzung von Seehofers Delegation gegeben. Dass Bernd Posselt mitreiste, wurde in einigen Medien kritisiert. Die Prager Regierung teilte daraufhin mit, dass der Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft nicht an den politischen Gesprächen teilnehmen werde und lediglich beim Begleitprogramm dabei sein werde. Die Teilnahme eines hochrangigen Vertreters der Landsmannschaft gilt auf bayerischer Seite allerdings als wichtige Voraussetzung dafür, dass die Ergebnisse der Gespräche von den Sudetendeutschen akzeptiert und unterstützt werden.

Seehofer betonte gestern immer wieder, dass seine Visite an der Moldau nur der erste Schritt zu einer vertieften Zusammenarbeit zwischen München und Prag sein könne. Schon bald erwarte er den Gegenbesuch des tschechischen Regierungschefs in Bayern, sagte er auf der Pressekonferenz. In diplomatischen Kreisen wird zudem über einen erneuten Prag-Besuch Seehofers in naher Zukunft spekuliert. Nachdem die erste Begegnung den jahrelang aufgestauten Druck aus den Beziehungen genommen habe, könne man beim nächsten Spitzentreffen in inhaltlichen Fragen weitere Fortschritte erzielen, heißt es hinter vorgehaltener Hand.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Dezember 2010


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