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Bevor der Befehl erging

Vor 10 Jahren intervenierten Russlands Truppen in Tschetschenien

Von Irina Wolkowa, Moskau*

Zwei Kriege mit über 100000 Toten sind in den vergangenen zehn Jahren über Tschetschenien hinweggezogen. Extremisten haben den Konflikt durch Bombenanschläge und Geiselnahmen über die Grenzen der Republik hinausgetragen. Ein Ende ist nicht absehbar, obgleich Moskau Normalisierung und Aufschwung in Tschetschenien verkündet. Unsere Autorin sprach zum Jahrestag mit einstigen Akteuren. Ruslan Chasbulatow ist wieder Professor für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Plechanow-Akademie in Moskau. Nur selten steht der einstige Parlamentsvorsitzende noch vor Kameras und Mikrofonen – wie jetzt, da Russland in aller Stille einen Jahrestag begeht: Am 11. Dezember 1994 marschierten russische Truppen in die Republik Tschetschenien ein, um dort die verfassungsmäßige Ordnung wiederherzustellen.

Chasbulatow, gebürtiger Tschetschene, nennt Boris Jelzins Panzerattacke auf das russische Parlament im Oktober 1993 die »Generalprobe« für den Krieg in Tschetschenien, wo unter Separatistenchef Dshochar Dudajew Chaos und organisiertes Verbrechen gediehen. Noch war die Masse der Bevölkerung dort bereit, Russland erneut als Ordnungsfaktor zu akzeptieren. Chasbulatow versuchte, zu vermitteln. Sein Plan: ein Assoziierungsabkommen mit Moskau, das Tschetschenien maximale Autonomie gewährt. Chasbulatow wusste, dass das mit Dudajew nicht zu machen war. Stufe zwei seines Plans sah daher vor, in Tschetschenien selbst die Macht zu übernehmen. Tatsächlich kamen zu seinen Meetings oft über 100000 Menschen.

»Chasbulatow und sein Plan hatten bei Jelzin keine Chance«, sagt indessen Waleri Tischkow, damals Minister für Nationalitätenpolitik. Nicht nur wegen der persönlichen Feindschaft zwischen beiden. Die Republik Tatarstan hatte sich erst Anfang 1994 Sonderbedingungen für den Beitritt zur Russischen Föderation ertrotzt. »Mit Tschetschenien wäre dieser Ausnahmefall zur Regel geworden«, sagt Tischkow. Und Russland wäre irgendwann womöglich zerbrochen.

Der Kreml ließ Chasbulatow also abblitzen und baute stattdessen aus angeblich gesunden Kräften Tschetscheniens eine Opposition auf: Leute, die sich 1993 mit Dudajew wegen der Teilung von Erlösen aus illegalem Export von tschetschenischem Öl überworfen hatten und in Snamenskoje eine Gegenregierung bildeten – den Provisorischen Rat.

»Säckeweise haben sie von uns Geld bekommen. Und jede Menge Waffen. Die verhökerten sie sofort an das Regime, dass sie eigentlich bekämpfen sollten – an Dudajew«, sagt Viktor Baranjez, damals Pressesprecher von Verteidigungsminister Pawel Gratschow. Der setzte die tschetschenische »Opposition« am 26. November 1993 zur Erstürmung Grosnys in Marsch. »Ohne Aufklärung, ohne Ortskenntnis und ohne Unterstützung der tschetschenischen Bevölkerung«, schimpft Baranjez. In den Panzern der »Opposition« saßen nämlich meist Russen: »Rekruten, die glaubten, ein paar Banditen vor sich zu haben, und sich plötzlich mit einem gut ausgebildeten, hoch motivierten Gegner konfrontiert sahen.« Viele hätten die Panzer stehen lassen und seien um ihr Leben gerannt. Allein an jenem Sonntag fielen 500 Mann. Den Rest führte Dudajews Nationalgarde zwei Tage später als Gefangene durch Grosnys Straßen.

»Moskau«, behauptet Ruslan Martagow, der damals zur Führung des Provisorischen Rates gehörte, habe in Tschetschenien von Anfang an ein doppeltes Spiel gespielt: »Der LKW aus Mosdok (wo damals die Führung des Nordkaukasischen Militärbezirks saß), der uns Waffen brachte, hat am gleichen Tag aus dem gleichen Lager an Dudajew geliefert.« Die prorussische Opposition – davon ist Martagow überzeugt – habe Russland durch ihren Einsatz damals vor einer Neuauflage des Großen Kaukasuskrieges im 19. Jahrhundert gerettet. »Überall im Nordkaukasus gärte es. Die Völker waren bereit, dem Beispiel der Tschetschenen zu folgen. In Dagestan und Karatschajewo-Tscherkessien warteten bewaffnete Milizen nur auf das Signal zum Aufstand.«

Schamil Benó bestätigt es. In der tschetschenischen Diaspora Jordaniens aufgewachsen und in den 70ern mit den Eltern in die Sowjetunion emigriert, wurde Benó gleich nach der Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens erster Außenminister der Separatisten, warf jedoch zwei Jahre später enttäuscht das Handtuch. Denn Dudajew geriet zunehmend unter den Einfluss des radikal-islamischen Flügels um Informationsminister Mowladi Udugow, dessen Auslieferung Putin jetzt von der Türkei verlangt.

Kurz vor Kriegsbeginn hatte Benó ein letztes Gespräch mit Dudajew. Ein Krieg mit Russland müsse unbedingt vermieden werden, habe er dem Präsidenten gesagt. Und wörtlich: »Wenn westliche Truppen hier einrücken, würden ein paar Elite-Soldaten dich und vielleicht ein paar Mitarbeiter erledigen, die Zivilbevölkerung aber ungeschoren lassen. In Tschetschenien aber rückt die russische Armee ein: Soldaten, die Lenins Werteordnung gerade über Bord geworfen und die von Jesus noch nicht verinnerlicht haben, schlecht ausgebildet, miserabel besoldet und demoralisiert. Die machen zuerst Frauen und Kinder platt und wenn es sich ergibt, irgendwann auch dich.« Es ergab sich – im April 1996. Da zählten die Tschetschenen schon zehntausende tote Zivilisten und eine halbe Million Kriegsflüchtlinge. Und in Russland trauerten über 14000 Soldatenmütter um gefallene Söhne. Iwan Rybkin, seit 1993 Chef der Duma, des neuen russischen Parlaments, war dabei, als der Nationale Sicherheitsrat am 29. November 1994 hinter verschlossenen Türen tagte. Einziges Thema: Tschetschenien. Rybkin sagt, die Mehrheit habe sich damals gegen Kampfhandlungen ausgesprochen. Wladimir Schumejko, Chef des Föderationsrates, und Justizminister Juri Kalmykow hätten eine Intervention sogar kategorisch abgelehnt. »Unserer Forderung nach Rückkehr unter das Dach der russischen Verfassung sollte nur durch massive militärische Präsenz an den Grenzen Nachdruck verliehen werden.«

Was dann passierte, kann sich Rybkin bis heute nicht erklären. »Jelzin sah ausgerechnet mich an und sagte, er habe große Angst vor einem zweiten Afghanistan. Er war sogar zu einem Treffen mit Dudajew bereit. Doch am gleichen Tag kamen aus Grosny unverschämte militante Drohungen.« Irgendjemand müsse da »im Hintergrund die Fäden gezogen« haben.

Am Abend des 30. November unterschrieb Jelzin den Befehl: Illegale bewaffnete Einheiten sind zu entwaffnen und bei Widerstand zu liquidieren. Die Würfel waren gefallen. Am 11. Dezember setzte Moskaus Vorhut über den Terek. »Verfassungsmäßige Ordnung« herrscht bis heute nicht in Tschetschenien.

* Aus: Neues Deutschland, 11. Dezember 2004


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