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Tschetschenien/Ingutschetien: Droht in Russland ein Flächenbrand?

Erstarkter Widerstand - Gescheiterte Strategie - Keine Lösung in Sicht

Der lange Zeit in den Schatten des Afghanistan- und Irakkriegs getretene Konflikt in Tschetschenien (Russland) meldete sich im Juni 2004 wieder mit einer Reihe von Attentaten, Überfällen und Kämpfen zu Wort. Wir dokumentieren wichtige Ereignisse dieser Tage (18. bis 23. Juni) in Form von Kurzmeldungen, die man den Nachrichtenagenturen und der Tagespresse entnehmen konnte (siehe weiter unten unsere Chronik). Außerdem geben wir einen kurzen Überblick über die Hintergründe des neu entflammten Konflikts in Ingutschetien und Tschetschenien.
Zuvor dokumentieren wir einen Kommentar von Karl Grobe aus der Frankfurter Rundschau im vollen Wortlaut sowie Auszüge aus Pressekommentaren weiterer überregionaler Tageszeitungen.


Putins gescheiterte Strategie

Von Karl Grobe

Russlands künftiger Satrap in Tschetschenien, Alu Alchanow, wusste natürlich am Dienstagmorgen, wer hinter den nächtlichen Überfällen auf Polizei- und Regierungsgebäude im benachbarten Inguschetien steckt. Schamil Bassajew, der seit fast 15 Jahren aktive Bandenführer, soll es gewesen sein. Der letzte überzeugend gewählte tschetschenische Präsident, Aslan Maschadow, habe den Überfall vorweg gebilligt.

Nichts ist an dieser These bemerkenswert außer den offenkundigen seherischen Fähigkeiten Alchanows. Der russische Versuch, den islamistischen Gewaltmenschen Bassajew mit dem lange Jahre verhandlungsbereiten Maschadow in ein politisches Amalgam zu verschmelzen, ist so alt wie Wladimir Putins Krieg. Und wenn es neuerdings ein solches Bündnis geben sollte, so ist es Putins Werk.

Der russische Präsident nennt seine Strategie "Tschetschenisierung". Ihr Inhalt ist definiert. Tschetschenische Kollaborateure sollen das erledigen, was Russlands Armee und Russlands bewaffneter Geheimdienst nicht schaffen: Im Auftrag Moskaus den Widerstand zu Boden zwingen, mit allen Mitteln, von denen die meisten nicht von Kriegsrecht, Völkerrecht und individuellen Menschenrechten gedeckt sind.

Diese Strategie erreicht das Gegenteil von Frieden und nationaler Aussöhnung. Sie scheitert. Sie war schon gescheitert, bevor Moskaus handverlesener Führer in Grosny, Ahmad Kadyrow, am 9. Mai einem minutiös geplanten politischen Mord zum Opfer fiel. Kadyrows eigene Miliz, neben der Bassajews die kopfstärkste Bande in der Region, hat sie zu Fall gebracht durch willkürliche Verhaftungen, systematische Korruption, die rücksichtslose Zerstörung von Dörfern und Siedlungen.

Kadyrow ist selbst von Anhängern Putins im Kaukasus wenig beweint worden. Moskau lernte nichts daraus. Die Förderung des bisherigen Innenministers und Polizeichefs in Grosny, des einschlägig bekannten Alu Alchanow, belegt das Festhalten Putins an seinem Irrweg.

Auch die erzwungene Rückführung der letzten tschetschenischen Flüchtlinge aus Inguschetien in ein zerstörtes Land ohne gesicherte Lebensbedingungen belegt das. Der Angriff, dem Inguschetiens Innenminister und zwei Staatsanwälte zum Opfer fielen, mag auch von Rache für die Flüchtlingsaustreibung motiviert worden sein. Vor just solchen Reaktionen hat Maschadow gewarnt.

Eine - vielleicht die letzte - schmale Tür zur friedlichen Lösung hat Putin vor anderthalb Jahren selber zugeschlagen. Bis dahin schien noch möglich, mittels Verhandlungen den originären Widerstand von den kriminellen Einzelkämpfern zu trennen; auf der Grundlage des Jelzin-Maschadow-Friedens von 1997 wäre das nicht unmöglich gewesen. Putin hätte dann freilich zugestehen müssen, dass sein Krieg, dem er seine erste Wahl zum russischen Präsidenten mit verdankte, nicht nur Kriegsverbrechen nach sich gezogen hat, sondern insgesamt ein politischer Fehler war. Das wollte er nicht.

Jede "Säuberung" in einem tschetschenischen Dorf, jedes unaufgeklärte Verschwinden eines jungen Mannes, jede Vergewaltigung einer Frau hat der Rebellion neue Kämpfer verschafft. Sie hat die Verzweiflung genährt, die Frauen - deren Angehörige am russischen Krieg gestorben sind - zu Selbstmordattentäterinnen machte. Sie hat den militanten Gruppen, die einen einfach gestrickten, der gesamten Region fremden und von der Religion weit entfernten so genannten Islam verkünden, das dschihadistische Argument verschafft. Früchte der so genannten Tschetschenisierung.

Das alles geschieht in Europa. Den politischen Führern der großen Demokratien fällt nichts dazu ein als zu schweigen, nicht einmal aus Verlegenheit, sondern aus Opportunismus. Doch Putins Krieg entzivilisiert Russland. Das schlägt auf uns zurück. Im eigenen Interesse müssen die Demokratien eingreifen.

Aus: Frankfurter Rundschau, 23.06.2004

Weitere Kommentare (Auszüge):

Auch Josef Kirchengast warnt im Wiener "Standard" vor der Putinschen Illusion, der Konflikt um Tschetschenien könne militärisch gelöst werden. Bislang jedenfalls habe die harte Linie Moskaus nur zu einer weiteren Radikalisierung geführt. In dem Kommentar "Viele Kriegsgewinnler" heißt es u.a.:

(...) Im Zeitpunkt könnte eine subtile historische Anspielung liegen: In Russland wurde am Dienstag der 62. Jahrestag des Angriffsbeginns Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion begangen. Stalin hatte Tschetschenen und Inguschen kollektiv nach Kasachstan deportieren lassen, weil er ihnen Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht unterstellte. Als der Moskau-treue tschetschenische Präsident Ahmed Kadyrow heuer am 9. Mai in Grosny von einer Bombe getötet wurde, geschah dies ebenfalls an einem historisch bedeutsamen Tag: der Feier des Sieges über Nazideutschland.
Der Tschetschenien-Konflikt ist weder militärisch noch durch die von Putin forcierte "Regionalisierung" (freie Hand für lokale Despoten) zu lösen. Die Weigerung Moskaus, mit gemäßigteren Tschetschenenführern wie dem früheren Präsidenten Aslan Maschadow zu verhandeln, hat bei den Separatisten zu einer Radikalisierung geführt. Erst am Wochenende kündigte Maschadow aus dem Untergrund heraus große Kämpfe an.
Letztlich nützt eine unkontrollierbare Spirale der Gewalt jenen am meisten, für die der Krieg ein prächtiges Geschäft ist. Denn er erlaubt weiter die massive Abzweigung russischer Entwicklungsgelder und illegale Ölförderung in großem Maßstab. Und dabei schneiden nicht nur Rebellen, Terroristen und Moskau-treue Tschetschenen mit, sondern auch russische Militärs.

Aus: DER STANDARD, 23.06.2004

In eine völlig andere Richtung geht der nächste Kommentar. Christoph von Marschall sieht eine "Islamistische Internationale" - so die Überschrift - am Werk. Diese Behauptung gründet aber weitgehend auf Vermutungen und Spekulationen. Im Berliner "Tagesspiegel" heißt es u.a.:

Das war nicht bloß ein Anschlag, das war ein generalstabsmäßiger Angriff. (...)
(...) In den zehn Jahren, die der Tschetschenienkrieg bereits dauert, hatten Moskaus Truppen die Rebellen allmählich aus den Ebenen und Städten verdrängt. Die halfen sich mit Partisanenüberfällen aus den Bergen und gingen vermehrt zu Terrorangriffen außerhalb Tschetscheniens über: in den Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien, aber auch auf das Musical-Theater und andere "weiche" Ziele in Moskau. Manche spekulierten, dies habe auch mit den Kriegen in Afghanistan und im Irak zu tun. Es gebe eine islamistische Internationale; deren Truppen seien zu noch wichtigeren Schlachtfeldern weitergezogen, dort kämpften sie nun gegen Amerika, den aktuell gefährlichsten Satan, so wie einst als Mudschahedin in Afghanistan gegen die Sowjets oder in den 90ern auf dem Balkan an der Seite der Bosniaken und Albaner. In Tschetschenien bleibe die islamistische Nationale auf sich gestellt, sei nur noch fähig zu Anschlägen, nicht zur Feldschlacht.
Es ist nicht falsch, sich den islamistischen Terror als System kommunizierender Röhren vorzustellen: Wächst der Widerstand im Irak, nimmt er im Kaukasus ab, weil Geld und Kämpfer nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen. Aber das ist nur ein Teil der Bedrohung. Neben der Internationale haben sich längst Nationalen des Terrors entwickelt, die eigenständig agieren. Osama bin Ladens Ideologie hat wie ein Krebsgeschwür metastasiert; die Infizierten sind weder auf ein Netzwerk wie Al Qaida angewiesen noch auf ihn als Befehlsfigur. Ihn zu fassen, ist symbolisch wichtig. Gegen internationalen Terror aber hilft nur internationale Kooperation, in einer klugen Mischung aus politischen und militärischen Ansätzen. Der Kampf dauert wohl eine ganze Generation.

Aus: Der Tagesspiegel, 23.06.2004

Der Kommentar in der Berliner Tageszeitung (taz) lenkt den Blick wieder auf die verschiedenen am tschetschenischen Bürgerkrieg beteiligten Kräfte und zeigt, dass Putin längst nicht mehr Herr der Lage ist. "Putin hat die Übersicht verloren" lautet denn auch der Titel des Kommentars von Klaus-Helge Donath, aus dem wir zitieren:

Ausgerechnet dort, wo Moskau seit Jahren das Epizentrum des tschetschenischen und internationalen Terrorismus verortet, im Herzen des Nordkaukasus, haben tschetschenische Rebellen Putin vorgeführt und gezeigt, dass er nicht mehr Herr im Hause ist. Und dies an einem Feiertag, dem 60. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die UdSSR. (...)
(...) Inzwischen vermittelt der Kreml .. den Eindruck, als habe er in der konfliktreichen Region den Überblick verloren. Mit einem inszenierten Krieg ist Putin momentan nicht gedient. Denn im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Tschetschenien muss er ein Interesse daran haben, die Stabilitätspropaganda im In- und Ausland wirkungsvoll zu verkaufen.
Unter seiner Ägide haben sich gleichwohl mehrere Kraftzentren herauskristallisiert, die jeweils eigene Ziele verfolgen. Der Armee etwa liegt nichts an einem Frieden, das ging aus einem geheimen Papier an den Kreml vor zwei Jahren hervor. Die Militärs empfahlen schon damals, Inguschetien mit in den Krieg hineinzuziehen. Daran lässt sich gut verdienen - und weder die eine noch die andere Seite möchte darauf verzichten. Mit Separatismus und Fundamentalismus hat der gestrige Anschlag also nichts zu tun. Auch nicht mit einem gewöhnlichen Krieg, sonst hätten die Rebellen größere Verluste hinnehmen müssen. Moskaus Militärs führen den Oberkommandierenden Putin an der Nase herum.

Aus: taz, 23.06.2004

Tomas Avenarius ("Zündeln im Kaukasus") traut Putin auch nicht zu, die Situation in der Kaukasusrepublik in den Griff zu bekommen. Im Gegenteil: "Mit dem Überfall in Inguschetien wächst für Moskau die Gefahr eines Flächenbrandes", schreibt er und sieht Anzeichen dafür, dass auch die angrenzenden Regionen in den bewaffneten Konflikt hineingezogen werden könnten. Auszüge aus dem Kommentar der Süddeutschen Zeitung:

(...) Das Bombenattentat auf den Kreml-treuen tschetschenischen Präsidenten Achmad Kadyrow hat Moskau die Schlüsselfigur in seiner Strategie gekostet, den Konflikt "politisch zu lösen". Nach den vom Kreml manipulierten - und gewonnenen - tschetschenischen Wahlen hatte Kadyrow gerade begonnen, die Macht rund um seine Person zu konsolidieren. Selbst wenn es Moskau gelänge, bei der Präsidentenwahl im August eine ebenso durchsetzungsstarke Figur wie Kadyrow einzusetzen: Auch dieser neue "Präsident" bliebe angreifbar. (...)
Nach dem nächtlichen Angriff auf Inguschetien stellt sich zudem die Frage, ob die Untergrundkämpfer ihre Kriegstaktik geändert haben. In den letzten Jahren hatten sie sich auf Bombenanschläge und Attentate verlegt, sei es in Tschetschenien selber, in Südrussland oder sogar in Moskau. Abgesehen von regelmäßigen kleineren Zusammenstößen der Rebellen mit den russischen Truppen in der Hauptstadt Grosny oder in den Bergregionen waren wirkliche "militärische Aktionen" selten. Vor wenigen Tagen hatte Untergrundpräsident Aslan Maschadow dem Radiosender "Radio Liberty" allerdings gesagt: "Wir werden unsere Taktik ändern. Bisher haben wir uns auf Sabotageakte konzentriert. Jetzt planen wir baldige militärische Aktionen." (...)
Der nächtliche Überfall auf Inguschetien birgt noch ein weiteres Risiko. Die Rebellen könnten mit ihrer neuen Strategie versuchen, den Kaukasuskrieg auf die umliegenden Republiken Russlands auszuweiten. Das wäre für Moskau die größte Katastrophe. Der Kreml kann mit etwa 80000 Mann an Truppen nicht einmal das winzige Tschetschenien kontrollieren, geschweige denn eine weitere Unruherepublik wie etwa Inguschetien. Der jahrelange Tschetschenienkrieg hat die wirtschaftlich schwachen Nachbarregionen wie Inguschetien, Dagestan oder Karatschai-Tscherkessien destabilisiert, Waffen gibt es im Überfluss. Längst gibt es in diesen Republiken militante Zellen, die von islamistischen Ideen infiziert sind. Auch wenn die Bevölkerung kein Interesse an einem offenen Konflikt mit Moskau hat, ist ein zeitweises Überschwappen des Krieges in die Nachbarregionen nicht ausgeschlossen. (...)
Sollte es den Rebellen gelingen, die angrenzenden russischen Republiken in den Krieg hineinzuziehen, wird es für Moskau sehr schwierig werden, den Kaukasus zu kontrollieren. Wenn auch in Tschetscheniens Nachbarschaft geschossen wird, lässt sich der Anschein einer politischen Lösung des Konflikts mit Hilfe der für August angesetzten Wahlen kaum noch erwecken.

Aus: Süddeutsche Zeitung, 23.06.2004

"Ratlos" sieht auch der Kommentator der "jungen Welt" den russischen Präsidenten. Was der russischen Führung vor allem fehlt, seien überzeugende Angebote, wie die soziale Lage für die Bevölkerung in den umkämpften Regionen verbessert werden könnte. Werner Pirker schreibt:

(...) Die terroristische Strategie ist eine Strategie der Spannungen. Sie läßt sich nicht ausrechnen und deshalb auch nicht wirklich bekämpfen.
Tschetschenien und Inguschetien bildeten zu Sowjetzeiten eine gemeinsame autonome Republik. Von gröberen Spannungen zwischen den beiden Völkerschaften war nichts bekannt. Bis Perestroika und Glasnost außer Kontrolle gerieten. Das begann 1998, als die Schattenmacht der "Demokraten" in Moskau die Gesetze des gesellschaftlichen Umbaus zu bestimmen begann. Ihnen kam zugute, daß unter der Oberfläche der sowjetischen "Völkerfamilie" nationale Spannungen latent weiterwirkten. Dazu kam eine ausufernde Geschichtsdiskussion, die die Erinnerung an in der Stalin-Zeit begangenes Unrecht an ganzen Völkerschaften neu aufwühlte. Die soziale Unzufriedenheit über den katastrophalen Verlauf der Perestroika übertrug sich auf das Gebiet der nationalen Beziehungen. Das "antiimperiale" Zentrum in Moskau gab die Losung aus: Völker der Sowjetunion, bekämpft euch bis aufs Blut und bringt so gemeinsam das Imperium zu Fall. Der Karabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan bildeten den "point of no return". (...)
Jelzin hatte den zerstörerischen Prozeß in Gang gesetzt und konnte ihn nicht mehr umkehren. Auch Putin droht dabei zu scheitern. Er kann der tschetschenischen Bevölkerung kein überzeugendes Angebot zur Besserung ihrer Lage machen, weil die soziale Katastrophe allgegenwärtig ist. Noch genießt Putin unter der russischen Bevölkerung den Ruf, das Land stabilisiert zu haben. Doch Tschetschenien als eine endlose Geschichte zerstört diesen Nimbus. Früher oder später wird sich der Kreml mit der Forderung konfrontiert sehen, die Tschetschenen gehen zu lassen. Das aber könnte einen verheerenden Domino-Effekt zur Folge haben. Mit den nach jedem Anschlag in immer gleichen Wendungen vorgetragenen Drohungen, den Feind für alle Zeiten auszulöschen, beweist der russische Präsident mit jedem Mal mehr, daß ihm jegliche Vision einer dauerhaften Konfliktlösung fehlt.

Aus: junge Welt, 23.06.2004

Chronik der jüngsten Kämpfe

18. bis 23. Juni 2004
  • Bei Überfällen in Tschetschenien sind sieben russische Soldaten und Polizisten getötet worden. Wie ein Vertreter der moskautreuen Regierung in der Kaukasusrepublik am 19. Juni mitteilte, fielen seit dem 18. Juni vier Soldaten Rebellenangriffen auf Militärposten zum Opfer. Ein Polizist sei bei einem Überfall in der Hauptstadt Grosny getötet worden. Zwei weitere Polizisten wurden den Angaben zufolge am 19. Juni in der Stadt Gudermes tot aufgefunden, nachdem sie am Tag zuvor verschleppt worden waren. Die russischen Truppen nahmen erneut Orte unter Beschuss, an denen Stellungen der Separatisten vermutet wurden. Mindestens 280 Personen wurden wegen mutmaßlicher Verbindungen zu den Rebellen an den beiden Tagen festgenommen.
  • Bei Angriffen von Rebellen in Tschetschenien wurden im Laufe des 20. Juni wieder sechs russische Soldaten getötet, wie ein Vertreter der moskautreuen Regierung am Tag darauf mitteilte. Die russischen Truppen nahmen Orte unter Beschuss, an denen Stellungen der Separatisten vermutet wurden.
  • Tschetschenische Rebellen sind offenbar in die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien eingedrungen und liefern sich dort heftige Kämpfe mit den Sicherheitskräften. Bei Gefechten in der Hauptstadt Inguschetiens, Nasran, sowie in den Städten Karabulak und Slepzowsk seien mehrere "Kämpfer" und Zivilisten getötet worden, berichtete die russische Nachrichtenagentur Interfax in der Nacht zum 22. Juni unter Berufung auf die Moskauer Vertretung der Kaukasusrepublik. Mit "Kämpfern" umschreiben russische Behörden in der Regel Rebellen aus der abtrünnigen Kaukasusrepublik Tschetschenien.
    Auf der Web-Site Ingushetia.ru hieß es aber, Augenzeugen hätten Tote in den Gebäuden gesehen. Die Nachrichtenagentur ITAR-Tass berichtete, das Gebäude der Grenztruppen in Nasran und ein Lagerhaus des Innenministeriums stünden in Flammen. Die Nachrichtenagentur Interfax meldete heftige Gefechte aus Machatschkala, der Hauptstadt der an Tschetschenien grenzenden Republik Dagestan.
  • Tschetschenische Rebellen haben Inguschetien mit der blutigsten Angriffswelle seit Jahren überzogen und mindestens 57 Menschen getötet. Mindestens 200 Kämpfer überfielen am Abend des 21. Juni Regierungs- und Polizeigebäude in drei Städten der Kaukasusrepublik mit Granatwerfern und Automatikwaffen und lieferten sich stundenlange Kämpfe mit Armee und Polizei. Unter den Opfern waren der moskautreue Innenminister Abukar Kostojew und sein Stellvertreter.
    Es war das erste Mal, dass Rebellen derart tief auf das Gebiet Inguschetiens, das an Tschetschenien grenzt, vorstießen. Nach inguschetischen Angaben wurden mindestens 47 Sicherheitskräfte und zwei Rebellen getötet, drei Verdächtige "unterschiedlicher Nationalität" wurden festgenommen. Die Polizei sprach von 200 Angreifern, der inguschetische Vizeministerpräsident Baschir Auschew von 300 bis 500.
    Besonders die Wirtschaftskapitale Nasran war Schauplatz blutiger Kämpfe: Die Kämpfer griffen gezielt Einrichtungen von Regierung und Sicherheitskräften an. Auch in den Städten Karabulak und Sleptowsk überfielen die Angreifer staatliche Einrichtungen. Die Kämpfe dauerten etwa fünf Stunden, dann zogen sich die Angreifer zurück.
    Auf den Straßen im Zentrum Nasrans lagen verkohlte Leichen, wie ein AFP-Reporter berichtete. Ausgebrannte Fahrzeuge standen am Rande. Aus dem teilweise abgebrannten Innenministerium stieg Rauch auf. Etwa drei Kilometer weiter auf der Straße zwischen der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku und Rostow waren vor einer Polizeiwache drei Tote in Uniform zu sehen.
    Die Rebellen nahmen nach Angaben von Sicherheitskräften am Montagabend zunächst entlang der Straße nach Nasran mehrere Wachposten ein. Gegen 20.00 Uhr MESZ starteten sie dann in Nasran, Karabulak und Sleptosowsk ihre Angriffe. Augenzeugen berichteten, die Rebellen hätten russische Polizei- und Armeeuniformen getragen.
    Nach den Rebellenangriffen in Inguschetien hat der russische Präsident Wladimir Putin die unbarmherzige Verfolgung der Verantwortlichen angekündigt. Die Angreifer müssten "gefunden und zerstört" werden, sagte Putin am 22. Juni laut der Nachrichtenagentur RIA-Nowosti. Wer lebend gefasst werden könne, müsse vor Gericht gestellt werden. So gut wie alle Attacken hätten auf Mitarbeiter der Sicherheitsorgane abgezielt. Putin traf in Moskau mit seinem Innenminister Raschid Nurgaljew, dem Chef des Geheimdienstes FSB, Nikolai Patruschew, Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow zusammen sowie mit Generalstabschef Anatoli Kwaschnin und dem Leiter des Militärgeheimdienstes, Walentin Korabelnikow.
  • Nach der Anschlagsserie in Inguschetien ist der russische Präsident Wladimir Putin noch am 22. Juni zu einem Blitzbesuch in die Kaukasusrepublik gereist. In der Hauptstadt Magas beriet er mit dem inguschetischen Präsidenten Murat Siasikow über die Lage. Bei dem Treffen, von dem der Sender Rossia Bilder zeigte, versprach Putin, die Rebellen zu finden. "Das ist ein neuer Versuch, die Inguscheten zu verängstigen, die Führung der Republik einzuschüchtern und die Situation weiter zu destabilisieren." Künftig sollen Soldaten des Innenministeriums dauerhaft in Inguschetien stationiert werden, erklärte Putin weiter.
  • Nach den Rebellenangriffen auf Regierungseinrichtungen in Inguschetien hat die "Internationale Helsinki-Föderation für Menschenrechte" Russland zur Zurückhaltung aufgefordert. Die Reaktion der russischen Streitkräfte dürfe nicht das "Niveau der Brutalität" erreichen, das in Tschetschenien zu beobachten sei, warnte der Leiter der Organisation, Aaron Rhodes, am Dienstag im Europarat in Straßburg. Eine unangemessene Reaktion werde den Konflikt nur weiter anheizen und zahlreiche Opfer fordern.
  • Nach dem Überfall tschetschenischer Rebellen in Inguschetien haben russische Truppen eine massive Fahndung eingeleitet. Mehrere tausend Soldaten waren im Einsatz.
    In Inguschetien begann am 23. Juni eine dreitägige Staatstrauer. Die Zahl der Todesopfer stieg auf 92. Unter den Toten sind nach Angaben der inguschischen Regierung 67 Behördenmitglieder. 120 Menschen wurden bei den nächtlichen Angriffen auf insgesamt 15 Ziele in der Hauptstadt Nasran und anderen Orten verletzt. Ein regionaler Funktionär des Inlandsgeheimdienstes FSB sagte, dass es 30 Minuten vor den Überfällen einen Hinweis darauf gegeben habe. "Wir haben aber nicht ein solches Ausmaß erwartet." An den vierstündigen Angriffen waren rund 200 Kämpfer beteiligt, die zeitweise mehrere Kontrollstellen entlang der transkaukasischen Autobahn in ihre Gewalt brachten. Fünf mutmaßliche Kämpfer wurden nach Angaben des inguschischen Innenministeriums verhaftet.
    Als Anführer der Angriffe bezeichnete der Innenminister der Moskau-treuen tschetschenischen Regierung, Alu Alchanow, den Rebellenführer Magomed Jewlojew, der sich in Inguschetien aufhalten soll. Jewlojew wird den islamisch-fundamentalistischen Wahhabiten zugerechnet.

Hintergrund

Die nordkaukasischen Völker der Inguschen und Tschetschenen bekennen sich zum sunnitischen Islam und sind eng verwandt. Im 19. Jahrhundert kamen sie unter russische Herrschaft. Nach der kommunistischen Oktoberrevolution 1917 erhielten die Inguschen und Tschetschenen zunächst jeweils ein eigenes autonomes Gebiet. 1934 wurden die beiden Gebiete zusammengelegt, um 1936 den Status einer Autonomen Sowjetrepublik ("Tschetscheno-Inguschetien") zu erhalten.

Die Inguschen sind im Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit den Tschetschenen wegen angeblicher Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht nach Sibirien und Kasachstan deportiert worden. Nach ihrer Rehabilitierung im Jahre 1957 konnten sie in den Nordkaukasus zurückkehren. Die wiedergegründete tschetschenisch-inguschetische Autonome Republik umfasste jedoch nur teilweise die Gebiete, in dem die beiden Völker vor dem Krieg gelebt hatten.

Besonders umstritten sind die Vororte der nahen nordossetischen Hauptstadt Wladikawkas, wo sich nach der Vertreibung der Inguschen nach dem Krieg Osseten angesiedelt hatten. Im Oktober 1992 brach wegen dieser Gebiete ein offener Konflikt zwischen Inguschen, die in ihre Heimatdörfer zurückkehren wollten, und Osseten aus.

Erst die Unabhängigkeitserklärung der Tschetschenen im Herbst 1991 unter dem von Moskau nicht anerkannten Präsidenten Dschochar Dudajew trennte die beiden Völker wieder. Auf Grund eines Beschlusses des russischen Parlaments wurde die Republik Inguschetien im Juni 1992 im Westteil der Kaukasusrepublik Tschetschenien-Inguschetien mit der Hauptstadt Nasran gegründet. Der frühere sowjetische Offizier und Held des Afghanistan-Krieges General Ruslan Auschew war im März 1993 zum Präsidenten Inguschetiens gewählt worden. Ende Oktober 1998 wurde die Hauptstadt von Nasran nach Magas verlegt. Heute leben in dem 3.600 Quadratkilometer großen Land rund 460.000 Menschen, vorwiegen Inguschen. Präsident ist Murat Sjasikow. Die inguschetische Bevölkerung sympathisiert mit den Tschetschenen. Zu Beginn der russischen Intervention in Tschetschenien im Dezember 1994 wurden die Moskauer Panzerkolonnen bei ihrem Vormarsch in Inguschetien behindert. Zehntausende tschetschenischer Flüchtlinge leben seither bei Verwandten und Bekannten in Inguschetien. Die inguschetische Führung war jedoch stets bemüht, den Tschetschenien-Konflikt nicht übergreifen zu lassen.

Nach: Der Standard (online-Ausgabe), 23.06.2004


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