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Suche nach Tätern auf Hochtouren

Russische Behörden rekonstruierten den Mord an Natalja Estemirowa

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Tschetscheniens Präsident Ramzan Kadyrow hat den Mord an der Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa nicht in Auftrag gegeben. Mit eben diesen Worten meldete sich ein Mann, der sich als Kadyrow vorstellte, Freitagfrüh (17. Juli) bei »Memorial«, der Menschenrechtsorganisation, für die Estemirowa gearbeitet hatte.

Die 50-jährige Juristin war Mittwoch (15. Juli) beim Verlassen ihres Hauses in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny entführt worden. Am Abend des gleichen Tages war ihre Leiche nahe der Grenze zur Nachbarrepublik Inguschetien gefunden worden. Präsident Dmitri Medwedjew hatte den Mord auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel am Donnerstag (16. Juli) in München in scharfen Worten verurteilt und als »Provokation« bezeichnet.

Russische Bürgerrechtler vermuten die Drahtzieher in der Umgebung des tschetschenischen Präsidenten Kadyrow. Dieser hatte Estemirowa mehrfach öffentlich angegriffen und sogar mit nicht druckreifen Worten beleidigt. Das letzte Mal Anfang Juli in Anwesenheit von Memorial-Vertretern aus der Moskauer Zentrale der Menschenrechtsorganisation. Der Mann, der dort gestern anrief und sich als Kadyrow ausgab, sagte Memorial-Chef Oleg Orlow gegenüber Radio »Echo Moskwy«, habe sich gegen einschlägige Schuldzuweisungen verwahrt und davor gewarnt, in die Rolle von Ermittlern und Staatsanwälten zu schlüpfen. Regierung und Präsidentenamt in Tschetschenien wollten den mysteriösen Anruf gegenüber dem Sender nicht kommentieren.

Ein Sprecher von Generalstaatsanwalt Juri Tschaika, der die Aufklärung des Mordes unter persönliche Kontrolle nahm und dem Kreml über Fortschritte regelmäßig Bericht erstatten will, sagte am Freitag, seine Behörde gehe von vier möglichen Versionen aus. Das wahrscheinlichste Tatmotiv sei nach gegenwärtigem Erkenntnisstand Estemirowas Engagement in der Menschenrechtsbewegung.

Dem Untersuchungskomitee bei der russischen Generalstaatsanwaltschaft – die Behörde ist dem US-amerikanischen FBI nachempfunden – ist es bereits gelungen, den Ablauf des Verbrechens weitgehend zu rekonstruieren. Demzufolge hatten die Entführer zunächst nicht vor, ihr Opfer zu ermorden. Die tödlichen Schüsse seien vielmehr eine Kurzschlussreaktion gewesen. Details berichtete die Tageszeitung »Kommersant«. Demzufolge hatte die Polizei nach einem Anschlag auf lokale Gerichtsvollzieher die Fernverkehrsstraße »Kawkas« gesperrt, um die flüchtigen Täter zu stellen. Die Entführer Estemirowas glaubten indes, die Fahndung gelte ihnen, bogen in einen Waldweg ab und richteten ihr Opfer hin.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Juli 2009

Weitere Meldungen aus Russland

Mord an Estemirowa: Entlarvende Veröffentlichung als mögliches Motiv

GROSNY, 16. Juli (RIA Novosti). Ein mögliches Motiv des Mordes an der tschetschenischer Bürgerrechtlerin Natalja Estemirowa kann eine ihrer letzten Publikationen sein, die zum Ermittlungsverfahren zum Mord an einem tschetschenischen Bürger, beigetragen hat.

Das teilte der amtliche Sprecher der zuständigen Untersuchungsbehörde RIA Novosti am Donnerstag (16. Juli) mit.

Ihm zufolge hat die Innenbehörde von Gudermes am 10. Juli ein Untersuchungsverfahren zum Mord an Abusupjan Albekow, Einwohner des tschetschenischen Dorfes Achkintschu-Borsoi, eingeleitet, der am 8. Juli auf einer Straße tot aufgefunden worden war. Die Leiche wies Schusswunden auf.

In ihrem Beitrag hatte Natalja Estemirowa darauf verwiesen, dass "der Vater und der Sohn Albekow - Abusupjan und Asis - von Unbekannten entführt worden waren, woraufhin der Vater im Dorf Achkintschu-Borsoi von nicht identifizierten Personen erschossen wurde. Der Aufenthaltsort des Sohnes ist unbekannt."

Laut dem Sprecher ist im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Asis Albekow eine Voruntersuchung eingeleitet worden.

Estemirowa war am Mittwoch 15. Juli) in der nordkaukasischen Republik Tschetschenien entführt und in dem benachbarten Inguschetien ermordet worden.


Mord an Menschenrechtlerin kann Kadyrow die Karriere kosten - Russlands Presse

MOSKAU, 17. Juli (RIA Novosti). Die bekannte tschetschenische Menschenrechtsaktivistin Natalja Estemirowa wurde am Mittwochmorgen in Grosny entführt und ermordet, schreiben die Zeitungen „Moskowski Komsomoletz“ und „Wremja Nowostej“ am Freitag (17. Juli).

Am Mittwochabend (15. Juli) wurde ihre Leiche in der benachbarten Teilrepublik Inguschetien gefunden.

Bislang wurden nur wenige Stimmen laut, die den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow als Mitschuldigen anklagen. Das ist ein Unterschied von den Morden an der Journalistin Anna Politkowskaja und den Brüdern Sulim und Ruslan Jamadajew, als die Öffentlichkeit keine Zweifel zeigte, dass sie auf Ramsans Befehl getötet wurden.

Doch der Mord an Estemirowa hat genau wie der Mord an Politkowskaja weltweite Entrüstung hervorgerufen. Wahrscheinlich hatten die Verbrecher genau dieses Ziel verfolgt.

Die Morde an den Brüdern Jamadajew behaupteten in indirekter Weise die unbegrenzte Macht von Kadyrow in Tschetschenien und waren in dieser Hinsicht in seinem Interesse. Doch der Tod von Estemirowa kann ein Ende seiner Karriere bedeuten. Eine weltbekannte Menschenrechtlerin wurde nicht in den Vereinigten Arabischen Emiraten und nicht in Moskau ermordet.

Sie wurde vor der Nase des tschetschenischen Präsidenten in dessen Hauptstadt entführt, auf der föderalen Kaukasus-Autobahn nach Inguschetien gebracht und dort erschossen. Kadyrow hatte sich große Mühe gegeben, sein Image im Westen aufzupolieren. Zum Beispiel hatte er versucht, den tschetschenischen Exil-Politiker Achmed Sakajew zur Rückkehr aus London nach Grosny zu bewegen.

Doch jetzt gehen alle seine Mühen flöten. Der Mord an Estemirowa zeugt offensichtlich davon, dass der tschetschenische Führer die Sicherheit der Bewohner der Republik nicht gewährleisten kann.

Kadyrow verliert eindeutig seinen einstigen Einfluss. Die Republik gilt nicht mehr als Zone der Anti-Terror-Operation, doch der Kreml will Kadyrow die versprochenen Wirtschaftsfreiheiten eindeutig nicht gewähren. Auch die Bojewiki (Terroristen) sind wieder aktiv: Jeden Tag gibt es Scharmützel mit Opfern unter Polizisten und Militärs.

Jetzt kommt noch der Mord an der bekannten Menschenrechtlerin hinzu, wegen dem bereits Vorwürfe an die russischen Obrigkeiten gestellt werden. Ein offensichtliches Ziel des Mordes ist, zu zeigen, dass die Behörden im heutigen Tschetschenien die Situation nicht kontrollieren. Wenn dieses Ziel erreicht ist, wird es Kadyrows Position erheblich schwächen.

Der tschetschenische Führer wird wiederum versuchen, seinen Einfluss und seine Macht durch reine Gewaltmethoden festzuhalten. Genau die, die Natalja Estemirowa kritisiert hatte. Kadyrow hat bereits versprochen, dass die Suche nach den Mördern nicht nur im Rahmen der offiziellen Ermittlung, sondern auch inoffiziell, „nach tschetschenischen Traditionen“, erfolgen werde.

Um die Mörder der Menschenrechtlerin zu finden, muss der tschetschenische Präsident jetzt also die Rechte von sehr vielen Menschen verletzen. Er kann einfach nicht anders.


Mord an Bürgerrechtlerin: Kadyrows Anwalt kündigt Verleumdungsklage an

GROSNY, 17. Juli (RIA Novosti). Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow will den Leiter der Menschenrechtsorganisation Memorial, Oleg Orlow, verklagen, der ihn für die Ermordung der Memorial-Mitarbeiterin Natalja Estemirowa mitverantwortlich gemacht hatte.

Kadyrows Anwalt bereite Klagen vor dem Gericht und der Moskauer Hauptverwaltung des Inneren vor, erfuhr RIA Novosti aus dem Presseamt des tschetschenischen Präsidenten. Den Angaben zufolge werden die Klagen in Moskau eingereicht, weil die Menschenrechtsorganisation Memorial dort ihren Sitz hat.

Die 50-jährige Estemirowa war am vergangenen Dienstag (14. Juli) in Grosny, Hauptstadt Tschetscheniens, gekidnappt worden. Am Mittwoch wurde ihre Leiche mit mehreren Schusswunden im benachbarten Inguschetien gefunden. Ermittler verbinden den Mord vor allem mit Estemirowas Berufstätigkeit, schließen aber auch andere Motive nicht aus, wie RIA Novosti aus der Staatsanwaltschaft erfuhr.

Memorial-Chef Oleg Orlow hatte die tschetschenische Führung für den Mord verantwortlich gemacht. Daraufhin rief der tschetschenische Präsident Kadyrow Orlow an und wies seine Anschuldigung als „unethisch“ zurück. Orlow erwiderte, er erkläre Kadyrow nicht zum Schuldigen an dem Mord, meine aber, dass er als Präsident Verantwortung dafür trägt, was in seiner Republik geschehe. Kadyrow stimmte dem zu, verwies aber zugleich darauf, dass es nicht logisch sei, „ein Gleichzeichen zwischen einer Verantwortung des Chefs einer Region und einer Verantwortung für den Mord zu setzen“

** Alle Meldungen aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 16. und 17. Juli 2009; http://de.rian.ru




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