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Terrorangriff auf tschetschenisches Parlament

Sechs Tote bei bewaffnetem Überfall auf den Gebäudekomplex in der Hauptstadt Grosny

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Ein blutiger Überfall von Terroristen auf das Parlament in Tschetschenien hat am Dienstag (19. Okt.) die russische Kaukasusrepublik erschüttert.

15 bis 20 Minuten brauchten Sondereinheiten der tschetschenischen Polizei nach eigener Darstellung, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Bewaffnete waren gegen 8.45 Uhr Ortszeit in das regionale Parlament in der Hauptstadt Grosny eingedrungen und hatten das Feuer eröffnet. Dabei gab es sechs Tote. Drei sind Terroristen, zwei Angehörige der tschetschenischen Polizei, die den Komplex bewacht. Ein Parlamentsmitarbeiter starb. Mindestens zehn Menschen wurden verletzt.

Die Angaben zu den Opferzahlen waren selbst Stunden nach dem Anschlag so widersprüchlich wie die Darstellung des Hergangs. RIA Nowosti sprach unter Berufung auf Quellen in den tschetschenischen Sicherheitsorganen von einer Gruppe von vier Terroristen, deren Pkw dem Dienstwagen eines Abgeordneten folgte und dadurch die Sperren überwand. Einer der Attentäter habe sich danach vor dem Gebäude gesprengt, seine Kumpane hätten sich zunächst verbarrikadiert und dann weitere Sprengsätze gezündet. Insgesamt soll es sich um drei oder vier Terroristen gehandelt haben. Anfangs hieß es, sie hätten auch Geiseln genommen. Das Gebäude wurde kurzzeitig geräumt, Ordnungskräfte befürchteten, es könnte vermint sein.

Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow leitete die Sonderoperation persönlich und erstattete anschließend Premier Wladimir Putin per Telefon Bericht. Auch Präsident Dmitri Medwedjew, der im französischen Deauville mit Amtskollegen Nicolas Sarkozy und Bundeskanzlerin Angela Merkel konferierte, wurde informiert.

Der KP-Abgeordnete Viktor Iljuchin forderte vom Sicherheitsausschuss der Duma umfassende Information über den tatsächlichen Hergang des Anschlags. Das Parlament hatte seine Tagesordnung über den Haufen geworfen und »tiefe Besorgnis« über die Entwicklungen in Tschetschenien geäußert. Kadyrow und zuvor dessen Vater Ahmad, der 2000 von Putin zum Verwaltungschef Tschetscheniens ernannt worden war und 2004 bei einem Anschlag ums Leben kam, hatten dafür gesorgt, dass die Republik, die sich 1991 für unabhängig erklärt hatte, unter das Dach der russischen Verfassung zurückkehrt. Mit umfassender Autonomie und milliardenschweren Investitionen, die auch in den Wiederaufbau des durch zwei Kriege zerstörten Grosny flossen, sicherte Moskau sich die Loyalität der Bevölkerung und ihrer Eliten. Tschetschenien galt daher als befriedet. Auch weil Kadyrow seine Republik mit harter Hand regiert, weshalb der radikale Flügel der Separatisten, der Amnestie-Regelungen ausschlug, seine Aktivitäten in die Nachbarregionen verlegte - nach Inguschetien und vor allem nach Dagestan.

Beide Republiken sind »Kernprovinzen« eines imaginären nordkaukasischen Gottesstaates. Zu dessen »Emir« ließ sich 2006 Doku Umarow ausrufen, der auch die Verantwortung für alle größeren Anschläge der letzten Zeit übernahm. Differenzen, die es zwischen ihm und anderen Feldkommandeuren gab, eskalierten zum offenen Bruch. Mehrere Unterführer kündigten Umarow die Gefolgschaft und gehen seither auf eigene Faust anschaffen. Auf ihr Konto dürften auch die Anschläge in Grosny gehen.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Oktober 2010


Von wegen sicher: Neuer Terror im Nordkaukasus

Von Dmitri Babitsch **

Der jüngste Bombenanschlag auf Tschetscheniens Parlament beweist, dass die Terroristen im Nordkaukasus wieder aktiv geworden sind.

Dennoch schätzte Innenminister Raschid Nurgalijew, der am Tag des Anschlags in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny weilte, die Situation eher zurückhaltend ein. "Eine solche operative Situation wie heute entsteht sehr selten. In Tschetschenien ist es stabil und sicher", sagte er in einer Beratung im tschetschenischen Innenministerium, nachdem mitgeteilt wurde, dass alle Angreifer getötet worden seien (Republikchef Ramsan Kadyrow sprach von drei Terroristen; Quellen in der tschetschenischen Regierung sogar von vier bzw. fünf).

Man muss einräumen, dass in "stabilen und sicheren" Ländern (nach europäischen Standards gemessen) solche Zwischenfälle ein Mal in zehn, wenn nicht in 100 Jahren vorkommen. Es sind mindestens drei Polizisten ums Leben gekommen. Verletzt wurden mindestens 15 Personen. Dennoch behauptete der Innenminister, der terroristische Untergrund wäre "so gut wie enthauptet", während "die Tätigkeit der Emissäre der ausländischen Terrorzentren unterbunden" worden wäre. Natürlich sei das "ein großes Verdienst des tschetschenischen Innenministeriums."

Bedauernswert ist, dass Minister Nurgalijew eigentlich Recht hat, wenn er Tschetschenien als Musterbeispiel für die anderen nordkaukasischen Teilrepubliken anpreist: In Inguschetien und Dagestan sind die Terroristen derzeit viel aktiver als in Tschetschenien. Das bedeutet aber nicht, dass Tschetschenien "eine sichere und stabile Republik" (so der Minister) ist. Das bedeutet lediglich, dass die Situation in den Nachbarrepubliken noch gefährlicher und instabiler ist.

Ein großes Problem ist auch, dass die Terroristen in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr nur tschetschenische Nationalisten sind. Jetzt sind das vor allem islamische Fanatiker, die einen Krieg für ein so genanntes "Emirat Kaukasus" führen. Sie vertreten allerdings fast alle ethnischen Gruppen, die im Nordkaukasus leben. Unter ihnen gibt es auch ethnische Russen.

Das "Emirat Kaukasus" ist zweifellos ein abenteuerliches Vorhaben, ein von den Fanatikern erfundenes Phantom. Das "Emirat Kaukasus" hat es nie gegeben, denn der Nordkaukasus ist seit Jahrhunderten mit Russland und dem christlichen Transkaukasien verbunden. Aber die Geschichte kennt zahlreiche Beispiele dafür, dass Phantome noch mehr Menschen das Leben kosteten als politische Interessen real existierender Kräfte. Der Grund dafür ist ganz einfach: Die Träume der Fanatiker können unmöglich wahr werden. Aber ausgerechnet die Fanatiker scheinen derzeit im terroristischen Untergrund den Ton anzugeben.

Möglicherweise hat Nurgalijew auch Recht, wenn er von der "Enthauptung der Terroristen" spricht. Im August konnten die russischen Geheimdienste einen gewissen Magomedali Wagabow ausschalten, der die Nummer zwei im "Emirat Kaukasus" (nach Doku Umarow) gewesen sein soll. Im August gab Umarow per Internetbotschaft seinen Rücktritt bekannt, machte aber später einen Rückzieher.

Die Extremisten scheinen tatsächlich Probleme mit ihren Anführern zu haben, aber das sollte weder die Behörden noch die Bürger Russlands täuschen. Denn besonders gefährlich sind Extremisten, die überhaupt keine Vorgesetzten haben. Dann gibt es einfach niemanden, mit dem man über Waffenniederlegung oder wenigstens eine Feuerpause verhandeln könnte.

Leider sind die nordkaukasischen Terroristen trotz ihrer inneren Kämpfe weiter aktiv. Ihr Einflussbereich wird sogar größer. Am 9. September wurde das relativ ruhige Nordossetien durch eine Bombenexplosion auf einem Markt in Wladikawkas erschüttert. Dabei starben 19 Menschen. Weniger aufsehenerregende Terroranschläge werden in Inguschetien und Dagestan alle zwei, drei Tage verübt. Die Menschen beklagen sich immer häufiger über Korruption und Amtsmissbrauch. Die Medien berichten jedoch immer davon, dass wieder einmal neue Extremistenanführer ausfindig gemacht und eliminiert wurden.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

** Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 20. Oktober 2010; http://de.rian.ru


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