Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nicht ohne Leibwächter

Inguschetien: Wenn der Tschetschenien-Krieg über die Ufer tritt

Von Andrea Strunk*

In der winzigen Republik von 3.600 Quadratkilometern Größe verbrüdern sich uralte Traditionen wie Clanwirtschaft und Blutrache mit einer aus Not, Gier oder einfach Charakter entsprungenen Abwesenheit zivilgesellschaftlicher Normen. Inguschetien scheint wie aus Zeiten, in denen die Moderne nicht einmal morgendämmerte. Es gibt keine Regeln außer jenen, in denen es um Ehre und Mannhaftigkeit einerseits, Geld und Einfluss andererseits geht. Es gibt keine Gesetze, es gibt nur Deals, in Hinterhöfen und an dunklen Ecken ausgehandelt. In Inguschetien zählt ein Menschenleben soviel wie der Preis, der sich dafür erzielen lässt - Ausländer werden dabei in den höheren Kategorien gehandelt.

Nicht ohne meinen Leibwächter wäre ein Hollywood-Titel, der in Inguschetien Erfolg haben könnte. Bodyguards sind alltägliche Realität. Ob Nichtregierungsorganisation (NGO), Geschäftsmann, Politiker oder Clanchef - die Bewegungsfreiheit aller ist an Männer mit Maschinenpistole gebunden. Die Bewachung gefalle ihm nicht, sagt ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation World Vision, noch weniger aber gefiele es ihm, durch Kopfabschneiden zu sterben.

Inguschetien ist als Nachbarrepublik Tschetscheniens Teil einer Sperr- und Todeszone, in der Abstände nicht nach Kilometern gemessen werden, sondern nach der Anzahl der Checkpoints, die man durchfahren muss. Die Länge einer Reise errechnet sich aus der Wartezeit an diesen Militärposten plus der jeweiligen Laune des Grenzoffiziers. In dieser Zone gibt es kein Recht auf Unversehrtheit. Entführungen haben eine lange Tradition. Beliebt sind Verschleppungen schöner Jungfrauen zwecks Heirat. Einmal entehrt, bleibt den Frauen in der islamischen Gesellschaft ihres Landes keine Wahl, als ihren Entführer zu heiraten. Daran hat sich nie etwas geändert. Auch Dienstpersonal wurde früher gern durch Kidnapping rekrutiert und fristete, für immer verschwunden, in einsamen Bergdörfern ein Sklavendasein. Verschleppt wurde auch, um Rivalen aus dem Weg zu räumen oder Rache zu nehmen.

Der Sozialismus befriedete die Entführerszene, und es ist schwer nachzuvollziehen, ob es der Einfluss der Ideologie war, der eine den Nordkaukasiern unterstellte archaische Wildheit eindämmte, die Macht der sowjetischen Gesetze oder die Nachwehen der Deportation des Wainachischen Volkes - wie sich die Inguscheten und Tschetschenen ethnisch bezeichnen - während des Zweiten Weltkrieges. Von dem Schock, ihres kulturellen Erbes beraubt worden zu sein, haben sich beide Völker bis heute nicht erholt.

Erst der Tschetschenienkrieg (seit 1994), in dessen Folge Moskau die Kontrolle über den Nordkaukasus verlor und etliche Hilfsorganisationen nach Inguschetien kamen, hat Menschenraub wieder zu ganz neuen Dimensionen verholfen. Dabei geht es kaum um Geld, sind selten Banditen die Täter. Bei den 431 Entführungen, die allein 2003 in Inguschetien und Tschetschenien offiziell registriert wurden, handelte es sich nach Ansicht der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial größtenteils um "Zachistki", das heißt "Säuberungsaktionen", bei denen russische Soldaten Haus für Haus durchkämmen und jeden mitnehmen, der ihnen verdächtig vorkommt. 127 der im Vorjahr Entführten tauchten lebend wieder auf, 47 wurden ermordet, von 247 fehlt jede Spur. In Wirklichkeit sei - so sagt es Memorial - die Zahl der Entführungen dreimal so hoch.

Über die Gründe des Kidnappings zuckt man auch in Inguschetien die Schultern. "Die Russen", sagen die einen, "die Tschetschenen", die anderen. Der Befehlshaber der russischen Truppen im Nordkaukaus, General Valery Baranow, verneint eine Beteiligung seiner Soldaten. Diese Verschleppungen ginge ausschließlich auf das Konto einheimischer Krimineller.

Wer und warum auch immer: Die inguschetische Regierung jedenfalls sah sich gezwungen, den Hilfsorganisationen bewaffneten Schutz von Soldaten und Polizisten aufzuerlegen. Ein Übereinkommen, von dem die Republik profitiert, indem sie das Gehalt der zur NGO-Leibgarde Aufgestiegenen einspart und an deren "Leihgebühr" verdient.

Eine Unterscheidung zwischen politischen und rein finanziell motivierten Verbrechen fällt schwer. Die Zahl der Nachnamen ist gering, es gibt eine Hand voll Clans und mehr nicht. In diesen Clans ist die Vernetzung der Familien so eng, dass keiner unschuldig bleibt, wenn einer sich schuldig macht.

Durch einen geschickten Kniff der russischen Jurisprudenz ist die kleine Kaukasusprovinz zur Steuerfreizone geworden. Damit hat sich Moskau einer tiefen Dankbarkeit versichert. Als der Krieg im Nachbarland Hunderttausende Tschetschenen in die Obdachlosigkeit stieß und einer menschenwürdigen Existenz beraubte, wurde aus der Freihandelszone Inguschetien auch eine Brutstätte für Kleinkriminelle, Hasardeure und Menschenhändler, ein Königreich für Wodka-, Waffen- und Erdölschmuggel. Verschwendet ist kriminelles Talent, das hier nicht zur Entfaltung kommt. Der heute mögliche Reichtum jedenfalls schien undenkbar zu Zeiten des sozialistischen Systems, als die geophysische Beschaffenheit der Kaukasusrepublik zu nichts anderem zu taugen schien als zur Aufzucht von Kälbern und Ferkeln. v Man muss insofern nicht nach Tschetschenien fahren, um die Grausamkeit zu erfahren, mit der in dieser Region Krieg geführt werden kann, denn ein Teil Tschetscheniens ist nach Inguschetien gezogen. Die Zahlen darüber schwanken, wie viele Flüchtlinge seit Herbst 1999, als der zweite Tschetschenienkrieg begann, vor russischen Luftangriffen mit Bussen und Lastwagen in riesigen Kolonnen ins nahe Bruderland flohen. Den Zahlen kann entnommen werden, wer gezählt hat. Die Regierung in Moskau spricht von 100.000 - die Hilfsorganisationen kommen auf 200.000 Flüchtlinge, was in etwa der Einwohnerzahl Inguschetiens entspricht. Den Daten des vergangenen Jahres zufolge sind davon bis heute 6.000 geblieben, die in Armut und Hoffnungslosigkeit auf den Tag warten, an dem sie in ihre Heimat zurück können.

Vom Krieg in Tschetschenien hat Inguschetien so offensichtlich profitiert, dass man peinlich berührt ist. Nasran, einst eine Ansammlung von Kolchosen, ist bis heute in seinem Zentrum nicht viel mehr als ein diffuses Konglomerat aus Baracken, schlammigen Straßen und hungrigen Katzen. Doch die aus rot gebranntem Ziegel erbauten Einfamilienheime, die sich in Neubausiedlungen um das Zentrum scharen, sind Villen mehr als Häuser, mit riesigen Bogenfenstern und verschnörkelten Türmchen.

Auch Alikhan, Chef einer sechsköpfigen Gruppe von Leibwächtern, profitiert vom politischen und menschlichen Chaos. Ihm beschert die Angst vor Entführungen etliche Privilegien: ein ansprechendes Gehalt, Wohnkomfort, soziales Prestige, den Einblick in die Welt der Ausländer. Das Verhältnis zu seinen Schützlingen ist ein enges. Man isst zusammen, diskutiert beim Tee, zeigt die Fotos der Kinder. Es beschäme ihn, sagt Alikhan, dass Fremden in seinem Land nicht mehr die traditionelle Gastfreundschaft gewährt werde und sie sich mit Maschinenpistolen beschirmen lassen müssten.

Die Inguschen seien ein freundliches Volk. Gäste zu bewirten, gelte als Ehre, aber der Krieg habe die Traditionen gebrochen, auch die Bruderschaft mit den Tschetschenen. Am Anfang sei man noch gern zu Hilfe geeilt, da habe fast jede Familie eine Gruppe von Flüchtlingen aufgenommen. In der Endlosigkeit des Konflikts sei die Hilfsbereitschaft an ihre Grenzen geraten. "Ich sage es nicht gern, aber die meisten Leute hier wären froh, würden die Flüchtlinge endlich gehen." Dieser Wunsch wird gerade abschließend erfüllt. Tschetschenien sei befriedet, die Flüchtlinge könnten zurückkehren, heißt es aus Moskau. Die Lager sollen ausnahmslos geschlossen werden.

Noch ist Inguschetien zu 85 Prozent von Russland abhängig. Der europäische und amerikanische Drang zu den Ölquellen des Kaukasus und zur Eroberung des russischen Hinterlandes hat sich herumgesprochen. Weil Nasran, in dessen Basar des öfteren eine Bombe explodiert oder Überfälle auf Polizeistationen wie jüngst am 22. Juni stattfinden, ein gefährliches Pflaster ist, aber auch mit Blick auf winkende Reichtümer, hat die Regierung ihren Sitz nach Magas verlegt, das sogar über einen Flughafen verfügt. Noch ist diese Hauptstadt nicht viel mehr als eine flache Ebene, in der einige Häuser der aufstrebenden Geldelite Inguschetiens und zwei Regierungsgebäude stehen. Aber immerhin - im monumentalen Palaststil hat Präsident Murat Sjasikow in Magas breits seine Residenz und ein Parlamentsgebäude bauen lassen.

Unter Hinweis auf die 150 Millionen Tonnen Rohöl, die man auf dem Territorium der Republik im Jahr fördert, gibt sich Premierminister Timur Mugoschkow selbstbewusst. "Bis 2015 werden wir mit Hilfe westlicher Investitionen die Zuschüsse aus Moskau auf Null bringen." Auf die Frage, ob das bedeute, Inguschetien wolle sich auf eigene Füße stellen, findet er eine kryptische Antwort: Sein Land werde in Zukunft nicht nach mehr Unabhängigkeit streben als zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Man habe keinerlei Ambitionen, den tschetschenischen Weg zu gehen.

* Den Beitrag haben wir der kritischen Wochenzeitung "Freitag" vom 2. Juli 2004 entnommen


Zurück zur Tschetschenien-Seite

Zur Kaukasus-Seite

Zurück zur Homepage