Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Tränengas gegen Arbeiter

Türkei: Streikcamp in Samsun gewaltsam aufgelöst. Neoliberale Offensive der Regierung stößt auf eine zersplitterte Gewerkschaftsbewegung

Von Nick Brauns *

Mit Wasserwerfern und Tränengas löste die türkischen Polizei Mitte April ein Streikcamp in der Schwarzmeerstadt Samsun auf. Zwölf Tage lang hatten Tabakarbeiter mit ihren Familien eine Fabrik besetzt, um gegen die privatisierungsbedingte Entlassung von 110 Kollegen zu protestieren.

Polizeigewalt gegen protestierende Arbeiter ist zur Normalität unter der seit 2002 regierenden islamisch-konservativen AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan geworden. Während die Wirtschaft mit kräftigem Wachstum von fast neun Prozent im vergangenen Jahr aus der globalen Krise kam, bleibt die Armut unverändert hoch. Die im Interesse der anatolischen Unternehmer und des internationalen Großkapitals betriebene neoliberale Regierungspolitik setzt auf die Privatisierung von Staatsbetrieben und die Deregulierung des Arbeitsmarktes.

Den bislang heftigsten Widerstand gegen die Privatisierungspolitik leisteten im vergangenen Jahr 12000 Beschäftigte des ehemals staatlichen Tabakmonopols Tekel. Die hatten durch den Verkauf ihrer Arbeitsstätten an den »Lucky Strike«-Hersteller BAT ihre Jobs als Staatsangestellte verloren und sollten in den rechtlosen Leiharbeitsstatus 4/c versetzt worden. Trotz wiederholter Polizeiangriffe harrten die aus dem ganzen Land zusammengekommenen Tekel-Aktivisten zweieinhalb Monate in ihrem Protestcamp in Ankara aus. Hunderttausende Arbeiter beteiligten sich an einem landesweiten Solidaritätsstreik. Nachdem ein Gerichtsurteil Anfang März 2010 Lohnfortzahlung zugestand, brach die Gewerkschaft den aktiven Kampf ab. Ein Jahr später erhielten die Tekel-Arbeiter durch ein weiteres Gerichtsurteil einen lediglich leicht verbesserten 4/c-Status. Der Kampf war damit letztendlich gescheitert, weil die Gewerkschaftsführung nicht mehr auf die Kraft der Arbeiter vertraut hatte und sich auf die Justiz verließ.

Für die noch immer unter den Auswirkungen des Militärputsches von 1980 leidende Arbeiterbewegung war der Tekel-Kampf dennoch ein Fanal, das am 1. Mai 2010 seine Fortsetzung mit einer Großkundgebung von bis zu 300000 Menschen auf dem Istanbuler Taksim-Platz fand. Erstmals nach einem Massaker der NATO-Konterguerilla auf einer Gewerkschaftskundgebung im Jahr 1977 war der Platz wieder für eine Maikundgebung freigegeben worden. Auch in diesem Jahr werden am 1. Mai wieder Hunderttausende auf dem Taksim erwartet.

Diese seltene Einheit täuscht allerdings über die Schwäche der auf je drei Dachverbände der Industriegewerkschaften und des öffentlichen Dienstes aufgespaltene Gewerkschaftsbewegung hin, deren reeller Organisationsgrad auf rund fünf Prozent der Erwerbstätigen geschätzt wird. Das durch die Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation garantierte Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und kollektive Tarifverhandlungen wird in der Türkei Millionen von Arbeitern durch Gesetze aus der Zeit des Militärputsches vorenthalten. Tausende wurden unter der Regierung Erdogan wegen gewerkschaftlicher Betätigung entlassen oder sogar inhaftiert. Um als tariffähig anerkannt zu werden, muß eine Gewerkschaft einen Organisationsgrad von zehn Prozent in einer Branche sowie von fünfzig Prozent innerhalb eines Betriebes vorweisen. Gewerkschaftsmitgliedschaft muß notariell beglaubigt werden.

Diese Rechte stehen auch im Mittelpunkt der jüngsten Arbeitskämpfe. 163 Beschäftigte des international tätigen US-Logistikkonzerns UPS wurden im Frühjahr 2010 wegen angeblicher Arbeitsverweigerung entlassen, nachdem die Transportarbeitergewerkschaft Tümtis mit der Organisierung der Beschäftigten begann. In Izmir zwang ein UPS-Subunternehmen seine Mitarbeiter zum Gewerkschaftsaustritt beim Notar. Ein Manager bedrohte dabei Tümtis-Aktivisten mit einer Pistole. In Istanbul prügelte die Polizei Streikbrechern den Weg frei. Der UPS-Kampf endete nach 272 Tagen mit einem Sieg. Am 1. Februar 2011 unterzeichneten Tümtis und das Unternehmen ein Abkommen, das der Belegschaft das Recht auf gewerkschaftliche Organisation zusichert. 151 gekündigte Gewerkschaftsaktivisten wurden wieder eingestellt. Ermöglicht wurde dieser Erfolg durch die bei Arbeitskämpfen in der Türkei bislang nicht in diesem Ausmaß gekannte internationale Solidarität. So hatte die Internationale Transportarbeiterföderation (ITF) zwei Aktionstage für die türkischen Kollegen durchgeführt, an denen sich zehntausend Gewerkschafter weltweit beteiligten.

Ein vergleichbarer Kampf wird derzeit beim Lederverarbeitungsbetrieb DESA geführt, der Luxusmarken wie Prada beliefert. An DESA-Standorten in Istanbul, Corlu und Düzce arbeiten 1200 Menschen für einen Monatslohn von 300 bis 350 Euro bei einer zehnstündigen Arbeitszeit sechs Tage die Woche, Dutzende Minderjährige fünf Tage die Woche zum Teil bis 22 Uhr. Seitdem die Lederarbeitergewerkschaft Deri-Is angesichts solcher Arbeitsbedingungen im Jahr 2008 die Organisierung der Lederarbeiter eingeleitet hat, wurde Dutzenden von ihnen gekündigt.

* Aus: junge Welt, 29. April 2011


Zurück zur Türkei-Seite

Zur Gewerkschafts-Seite

Zurück zur Homepage