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Putsch-Urteile weitgehend bestätigt

Angeblicher Umsturzplan türkischer Militärs bleibt indes dubios

Von Jan Keetman *

In der Türkei sind lange Haftstrafen gegen viele ehemalige Militärs wegen eines angeblichen Putschversuches bestätigt worden.

Das türkische Kassationsgericht hat am Mittwoch ein Urteil gegen mehr als 300 türkische Offiziere wegen eines angeblichen Putschplanes weitgehend bestätigt. Die Angeklagten sollen an der Ausarbeitung eines solchen Planes gegen die Regierung Erdogan beteiligt gewesen sein oder von ihm Kenntnis gehabt haben.

An der Echtheit des Planes bestehen aber nach wie vor erhebliche Zweifel, die auch in den beiden Gerichtsverfahren nicht ausgeräumt wurden. Material zu dem Putschvorhaben war der regierungsnahen Zeitung »Taraf« zugespielt worden. Demnach hätten die Offiziere schon wenige Wochen nach dem Wahlsieg von Tayyip Erdogans gemäßigt-islamischer AK-Partei im Herbst 2002 begonnen, einen Putsch zu planen. Der mit dem Codewort »Vorschlaghammer« bezeichnete Putschplan soll im März 2003 auf einem Seminar mit zahlreichen Teilnehmern durchgesprochen worden sein. Während des Freitagsgebets, so die unterstellte Absicht, sollten in zwei großen Istanbuler Moscheen Bomben gezündet werden. Die dadurch provozierten Unruhen sollten dann den Vorwand für einen Putsch unter der Führung des Befehlshabers der 1. Armee, Cetin Dogan, liefern.

Doch rasch taten sich Ungereimtheiten auf. Anders, als von der Zeitung monatelang behauptet, war der Plan nicht unterschrieben, sondern bestand nur aus Dateien auf einer Diskette. In den gespeicherten Unterlagen fanden sich rasch Widersprüche. Ein Schiff der Marine, auf dem einer der Putschisten angeblich Dienst tat, war zum Zeitpunkt der Putschplanung noch nicht einmal gebaut, geschweige denn benannt und übergeben. Am Tag vor dem Beginn der Verhandlung wurde der Vorsitzende Richter aufgrund einer undurchsichtigen Affäre ausgetauscht. Das Gericht weigerte sich, eine Prüfung der Beweismittel vorzunehmen.

Auch das Kassationsgericht hat nun offenbar keine genaue Prüfung der belastenden Dokumente vorgenommen. Der Richter hatte gerade einmal zwei Seiten Text mit den Namen der Angeklagten dabei. Die Urteile gegen 237 Offiziere wurden bestätigt, 88 Urteile aufgehoben. Damit hat das Kassationsgericht im Kern die Anklage bestätigt. Im Gerichtssaal, in dem sich auch Abgeordnete der Opposition befanden, gab es Proteste.

Im Grunde zahlen die Angeklagten aber die Zeche für drei Militärputsche in der jüngeren Geschichte der Türkei und für die Arroganz, mit der sich die Generale lange Zeit in die Politik eingemischt haben. Damit erlebt die Türkei derzeit eine umgekehrte Entwicklung wie Ägypten. Auch das mag in das Urteil hineingespielt haben. Mit einem ordentlichen Verfahren hatte der Prozess indes nichts zu tun. Wegen des wirklichen Putsches von 1980 wird nur gegen die zwei überlebende Mitglieder der Junta verhandelt, die aus gesundheitlichen Gründen nicht vor Gericht erscheinen müssen. Die Spannungen zwischen Erdogan und einem großen Teil der Gesellschaft dürften sich mit diesem Urteil nicht verflüchtigen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 10. Oktober 2013


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