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Der Völkermord an den Armeniern

Erklärung von Abubekir Saydam, Internationales Zentrum für die Menschenrechte der Kurden (IMK e.V.)

Anläßlich des Gedenktages für die Opfer des Genozids an den Armeniern in der vergangenen Woche veröffentlichte das Internationale Zentrum für die Menschenrechte der Kurden (IMK e.V.) am 26. April eine Erklärung von Abubekir Saydam*, die wir im Folgenden dokumentieren.


Die Ausrottung der armenischen Christen und deren Vertreibung in weiten Gebieten des Osmanischen Reiches zählt zu den dunkelsten Kapiteln der türkischen Geschichte. Während des Völkermords an den Armeniern in den Jahren 1915 und 1916 wurden nach Schätzungen über eine Million Menschen getötet. Auch heute noch muß derjenige mit hohen Strafen rechnen, der in der Türkei dieses dunkle Kapitel anspricht. Der Genozid ist weder strafrechtlich aufgearbeitet noch von der türkischen Regierung je zugegeben worden.

Zur Mitschuld der Kurden

Das IMK ist eine Organisation mit vorwiegend kurdischen Mitgliedern. Als Menschenrechtsorganisation sind wir uns der Verantwortung bewußt, daß das Problem der Anerkennung dieses Völkermords auch von Kurden aufgearbeitet werden muß. Das IMK fordert nicht nur von der Republik Türkei ein Eingeständnis, sondern bekennt auch den eigenen Anteil der Kurden an der historischen Schuld. Gemeinsam mit der osmanischen Armee gingen von ihr ausgebildete kurdische Hamidiye-Regimenter gegen die christliche Minderheit vor. In Kurdistan überfielen auch die dem Osmanischen Reich treuen zahlreiche kurdische Stämme die Armenier.

Die Anerkennung des Völkermordes durch die Schweizer Bundesversammlung im Dezember 2003 hat eine heftige Kontroverse ausgelöst. Es gehe dabei nicht darum, gegenüber der heutigen Türkei Polemik zu betreiben. Auf dem Spiel stehe die geschichtliche Wahrheit, und deshalb müsse der Völkermord anerkannt werden, so Dominique de Buman von der CVP (Christlich-demokratische Volkspartei der Schweiz).

Der 24. April ist der Gedenktag für die Opfer des Armenier-Genozids, was uns veranlaßt zu fordern, daß der Deutsche Bundestag dem Schweizer Beispiel folgen soll und den Völkermord an den Armeniern anerkennt. Dies würde ein konstruktives politisches und historisches Signal setzen und die Türkei vielleicht dazu veranlassen, daß sie für die internationalen Historiker die osmanischen Archive vollständig öffnet und sich einer wirklichen, ideologiefreien,wissenschaftlichen Diskussion, wie sie in Deutschland von der Wissenschaft und den Kirchen immer wieder gefordert wird, stellt.

Gerade am Beispiel der Erfahrungen Deutschlands könnte die Türkei erkennen, daß die Aufarbeitung der eigenen Geschichte, sei sie auch noch so bitter, unverzichtbar ist, daß nicht Verheimlichung und Verleugnung, sondern Offenheit und Aufklärung der Schlüssel zur Versöhnung ist.

Die Bundesrepublik hat, anders als Japan, schon in den sechziger Jahren begonnen, sich seiner grausigen Geschichte von 1933–1945 in Dokumentationen, historischen Abhandlungen, Sachbüchern, Romanen, Erzählungen, in Theaterstücken und Dokumentar- sowie Spielfilmen, Rundfunk- und Fernsehdiskussionen zu stellen. Vor ihrem Eintritt in die EU haben z. B. nun auch Staaten des Baltikums begonnen, den hohen Anteil der Beteiligung ihrer Bevölkerung an den Verbrechen der deutschen Besatzungsarmee einzugestehen.

Die Türkei hat bis heute das Verbrechen an den Armeniern nicht als Völkermord anerkannt, sondern im Gegenteil in vielen Abhandlungen die Armenier als die aufständischen Täter und als Gefahrenherd hingestellt.

Wenn von der Republik Türkei erwartet oder verlangt wird, die Verantwortung für den Völkermord an den Armeniern als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches zu übernehmen, bedeutet das nicht, die heutige Bevölkerung des Landes für etwas an den Pranger zu stellen, was sie selbst nicht zu verantworten hat.

Während die deutsche Bevölkerung von den historischen Ereignissen im 2. Weltkrieg zeitlich noch nicht weit entfernt ist und in vielen Familien noch Menschen leben, die als Mitläufer, Parteigenossen, als Soldaten am Naziregime in irgendeiner Form beteiligt waren, liegt der Völkermord an den Armeniern so weit zurück, daß niemand der jetzigen türkischen Generation davon unmittelbar betroffen sein kann. Leider verweigerte jede türkische Regierung bis heute eine offene Debatte über dieses Thema.

Warnungen und Drohungen der Türkei

Bei jedem Versuch anderer Staaten, den Völkermord an den Armeniern als solchen anzuerkennen, kam es zu massiven Drohungen seitens der türkischen Regierung strategischer, ökonomischer oder politischer Art gegenüber den betreffenden Ländern wie der USA, der man die Militärbasis Incirlik nehmen wollte oder Frankreich, dem man hohe Handelsaufträge entzog, dessen Waren boykottiert wurden, ja, man wollte sogar die Lehre der französischen Sprache verbieten.

Die aktuellen Reaktionen der türkischen Politiker und Presse auf die in diesen Tagen (April 2004) erfolgte Anerkennung des Völkermords durch das kanadische Parlament zeigen einmal mehr, daß die türkische Seite keineswegs daran denkt, ihre Sichtweise zu ändern. Überschriften in der türkischen Presse sprechen von der »Schändlichkeit Kanadas« (Kanada ayibi) oder dem »Armenischen Hieb durch Kanada« (Kanada ’dan Ermeni Darbesi)

Die Kanadier seien den Behauptungen der Armenier aufgesessen, obwohl ihr Außenminister sie eindringlich vor den negativen Konsequenzen gewarnt habe. Der kanadische Botschafter wurde im Außenministerium in Ankara gewarnt, und zudem hieß es, der Schritt seines Landes werde weder den Armeniern Kanadas noch dem Staat Armenien nützen, im Gegenteil ihm Schaden zufügen.

Während die Parlamente Frankreichs und Kanadas sich von den türkischen Drohungen nicht einschüchtern ließen, hatten die Warnungen damals bei US-Präsident Bill Clinton Erfolg. Türkische Politiker und Militärs hatten ihre jeweiligen Amtskollegen unter starken Druck gesetzt und Clinton sah sich um des »nationalen Vorteils« willen genötigt, in letzter Minute eine Abstimmung zur Armenierfrage im Repräsentantenhaus zu verhindern.

Auch deutsche Politiker machten 2001 einen Rückzieher angesichts des türkischen Drucks. In Potsdam sollte das legendäre Haus des Pfarrers Lepsius, der die ganze Tragödie an den Armeniern miterlebt und dokumentiert hatte, der vergeblich versucht hatte, die deutschen Verbündeten des Osmanischen Reiches zum Einschreiten gegen den Völkermord zu bewegen, saniert und die Dokumente sollten der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht werden. Auf Druck des türkischen Botschafters, der sogar behauptete, Sanierung und Ausstellung würden eine Gefährdung für die Türkei bilden und dazu beitragen, die Türkei aufzulösen, hielten sich auch der Oberbürgermeister von Potsdam und Ministerpräsident Platzeck, vorher engagierte Befürworter des Projekts, zurück, und der Plan wurde vorerst aufgegeben.

Solange sich nicht nur türkische Politiker und Presse, sondern auch Wissenschaftler so vehement gegen die Anklagen der Armenier stellen, ist die Hoffnung auf ein Einlenken der Türkei sehr gering. Am 22. April 2004 bezeichnete der Historiker Prof. Dr. Metin Ayisigi von der Universität Balikesir in seinem Vortrag über die »Armenierfrage und Wahrheiten« (Ermeni Meselesi ve gercekler) die »Behauptungen der Armenier« als reines Phantasieprodukt. Von den zur Auswanderung gezwungenen ca. 700 000 Armeniern seien 200 000 bis 300 000 Menschen umgekommen, durch Krankheit oder Raub. Die Armenier verdrehten die Ereignisse nach Gutdünken und führten die Welt hinters Licht.

Wie man vor 20 Jahren noch in wissenschaftlichen Publikationen türkischer Universitätsprofessoren lesen konnte, daß es eine kurdische Sprache nicht gäbe, sondern dies ein etwas verkommener türkischer Dialekt sei, so ist man heute offensichtlich in der Erkenntnis der Armenierfrage auch noch nicht weiter.

Die Tatsache, daß man sich auch den dunklen Kapiteln der historischen Wahrheit stellt, könnte ein wichtiger Beitrag zur Prävention von weiteren Völkermorden sein. Denn der türkische Staat hat es nicht bei diesem Völkermord an den Armeniern belassen.

Parallele zu den Kurden

Es stellt sich parallel zu den christlichen Opfern von damals die Frage, ob die Bevölkerung der Türkei jemals darüber aufgeklärt wird, was ihr Staat seit Gründung der Türkei den Kurden angetan hat: eine gnadenlose Vertreibungs- und Assimilierungspolitik, Ausmerzung der kurdischen Kultur, ihrer Sprache, Musik, ihrer Namen und der Namen ihrer Städte, Dörfer, Flüsse, Pflanzen.

Wenn die Republik Türkei bereit wäre, sich der Diskussion dieser Probleme zu stellen, dann wird sie ein Stück weiter nach Europa gerückt sein.

Im EU-Annäherungsprozeß sollte die Türkei dazu gebracht werden, endlich die Menschenrechte zu achten und die Minderheitenrechte zu gewähren. Sie sollte davon abgebracht werden, eine solche grausame Tat zu wiederholen.

In diesem Sinne müssen auch kurdische Publizisten, Journalisten und Wissenschaftler das uneingeschränkte Recht erhalten, sich in Wort und Bild zu allen Aspekten ihrer Geschichte und Gegenwart zu äußern, ohne Repressalien befürchten zu müssen.

Deutschland wollte bisher noch nicht dem Beispiel Frankreichs folgen und den Völkermord durch das Parlament anerkennen lassen. SPD und CDU sind sich hierbei aus purem politischen Opportunismus einig. Man hat u. a. Angst vor den mehr als zwei Millionen türkischstämmigen Bürgern und den Wählern unter ihnen.

Was aber sind das für »Mitbürger«, die in diesem Land leben und arbeiten und noch immer nach der Pfeife der alten Heimat ihrer Väter tanzen und sich beleidigt fühlen, wenn es um die Ehre eines längst vergangenen Reiches geht, die aus Verbundenheit zu einem ganz anderen Land ihre Wählerstimme in Deutschland derjenigen Partei geben, die gerade der Politik Ankaras entgegenkommt?

Von dem Druck einer durch Botschaft und Presse eines anderen Landes manipulierten Gruppe dürfen hiesige Politiker sich nicht beeinflussen lassen. Der Antrag zur Anerkennung des Massaker an den Armeniern muß im Bundestag frei von wahltaktischen Erwägungen debattiert werden können.

Bonn, 26. April 2004

* Abubekir Saydam ist Geschäftsführer des IMK e.V.
Homepage: www.kurden.de
Die oben stehende Erklärung wurde am 30. April 2004 in der Zeitung "junge Welt" dokumentiert.



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