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Friede daheim, Friede in der Welt

Mustafa Kemal "Atatürk", der Vater der Türken, und seine sechs Prinzipien eines modernen Staatswesens

Von Klaus Jaschinski *

»Vater werden ist nicht schwer, Vater sein, dagegen sehr!« Ein in Deutschland hinlänglich bekannter Spruch, der sicherlich im übertragenen Sinne bei der Betrachtung von »Helden der Neuzeit« mit Verwendung finden könnte. Für Mustafa Kemal war indes schon der Aufstieg zum »Vater der Türken« mit reichlich Mühsal gepflastert, auch wenn ihm hier und da manch günstiger Umstand in die Hände gespielt haben mochte.

Als er 1881 an einem Frühlingstag als Sohn eines kleinen Staatsangestellten in Saloniki das Licht der Welt erblickte, war von einstiger Pracht und Größe des Osmanischen Reiches nicht mehr viel übrig. Misswirtschaft, innere Unruhen und diverse Kriege hatten das riesige Reich ausgezehrt und an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Patriotisch gesinnte Türken fühlten sich dadurch auf den Plan gerufen und versuchten, eine Wende zum Besseren herbeizuführen. Den größten Einfluss gewannen hierbei die »Jungtürken«, die sich »Einheit und Fortschritt« auf die Fahnen geschrieben hatten und 1908 im Gefolge eines Aufstands mit an die Hebel der Macht gelangten.

Mustafa Kemal, der schon in der Schule als »helles Köpfchen« aufgefallen war und anschließend die militärische Laufbahn wählte, fand früh Zugang zu den »Jungtürken«. Allerdings gab es in diesem erlauchten Kreis eine Rang- und Hackordnung, und gegen den charismatischen Enver Pascha, ebenfalls 1881 geboren und mazedonischer Abstammung, kam er nicht an. Auf ein echtes Kräftemessen mit ihm und seinen Getreuen ließ er sich dann auch gar nicht erst ein. Schließlich war er Offizier und hatte Befehlen zu gehorchen. Zum anderen verfuhr man in den Reihen der »Jungtürken« nicht gerade zimperlich mit jenen, die auszuscheren versuchten und Widerstand anmeldeten.

Die starke Anlehnung an das Deutsche Kaiserreich, die Enver Pascha betrieb und das Land geradewegs in den Ersten Weltkrieg steuerte, hatte Mustafa Kemal von Anfang an nicht behagt. Aber ausgerechnet ein Deutscher, der General Otto Liman von Sanders, war es, der seinen militärischen Werdegang merklich begünstigte und ihm gewisse Protektion verschaffte. Nicht zuletzt brachten auch eigene militärischen Leistungen ihm 1916 den Generalsrang ein. Nach der Niederlage hielt er zwar zunächst noch der alten Macht die Treue. Als die Regierung des Sultans ihn im Mai 1919 nach Anatolien entsandte, um die dort ausgebrochenen Unruhen zu beenden und die Aufständischen zu entwaffnen, wechselte er jedoch die Fronten. Obwohl das Land durch den Krieg nahezu völlig erschöpft war, bäumten sich hier die Türken in einem beispiellosen Kraftakt gegen die drohende koloniale Versklavung durch die Entente-Mächte auf. Mustafa Kemal erschien gleichsam als richtiger Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Sein Erzrivale aus dem Kreis der »Jungtürken«, Enver Pascha, hatte sich längst abgesetzt und frönte seinen Großreichträumen anderenorts weiter, bis er 1922 in Usbekistan im Kampf mit den Bolschewiki sein Leben aushauchte. Vorteil ziehen konnte Mustafa Kemal auch aus dem Umstand, dass man auf Seiten der Entente-Mächte erst nach einer Reihe von Niederlagen begriff, mit wem man es da eigentlich zu tun hatte.

Mit dem Frieden von Lausanne im Juli 1923 konnte die Gründung der jungen türkischen Republik wenige Monate später im Oktober auf einem immensen Achtungserfolg aufbauen. Zwar lag das Land wirtschaftlich weitgehend danieder, aber die Masse der Bevölkerung hatte neues Selbstbewusstsein und Zuversicht gewonnen und war bereit, Mustafa Kemal ohne Wenn und Aber als Staatschef zu akzeptieren. Wer in Europa und Asien konnte damals beim Beginn seiner Karriere als Staatsmann schon Ähnliches vorweisen und besaß einen solchen Freiraum zum Handeln? Und er handelte, wenngleich zuweilen mit Brachialgewalt, um alles das, was seinen Erkenntnissen zufolge die Türken in Rückständigkeit und Armut hielt und ihnen beständig Zoff mit Nachbarn bescherte, kurzerhand abzuschaffen und ihnen den Eintritt in »moderne Zeiten« zu verordnen. An die Stelle des schwachen Staatsgebildes der Osmanen sollte nun ein starker Nationalstaat treten und die Verantwortung für Fortschritt und Harmonie übernehmen.

Der Katechismus des »Kemalismus«, auf den sich der neue Staat gründen sollte, kannte sechs Prinzipien: Nationalismus, Laizismus, Republikanismus, Populismus, Revolutionismus und Etatismus. Dazu kam noch der Grundsatz: »Friede daheim, Friede in der Welt«. Ergebnisse, in denen sich diese Orientierung deutlich, wenn nicht gar drastisch widerspiegelte, waren u. a. die Abschaffung des Kalifats und der geistlichen Gerichte (1924), die Einführung der westlichen Zeitrechnung (1925), das Verbot des Gesichtsschleiers und des Fez (1926), die Streichung des Islams als Staatsreligion sowie die Einführung des lateinischen Alphabets (1928). Auf außenpolitischem Gebiet gelang der Abschluß von Verträgen mit Sowjetruss-land/UdSSR (1921 und 1925) und mit Griechenland (1930), die alten Hader beendeten und auf gute Nachbarschaft orientierten.

Ein »Rundum-Sorglos-Paket« hatte Mustafa Kemal, dem 1934 per Gesetz in Anerkennung seiner Verdienste der Name »Atatürk« verliehen wurde, damit aber keineswegs zuwege gebracht. Widerstand regte sich sehr wohl. Einmal darauf angesprochen, dass seine Herrschaft doch sehr der in Italien ähneln würde, entgegnete er geradezu entrüstet, dass es dahingehend wohl einen gewaltigen Unterschied gebe. Schließlich habe er sein Volk errettet, während Mussolini seines versklavt habe.

Als »Atatürk« am 10. November 1938 starb, war die Türkei zwar immer noch deutlich mit Merkmalen von Rückständigkeit behaftet. Sie hatte aber im Vergleich mit den meisten ihrer Nachbarn entwicklungspolitisch beachtlich an Boden gewonnen und konnte einem Großteil ihrer Bürger ein Leben in Frieden mit vergleichsweise bescheidenem Wohlstand bieten. Außenpolitisch galt die Türkei weithin als geachteter Partner und als Friedensfaktor in der Region. Selbst die Nazis in Berlin hatten mit ihren Avancen bei »Atatürk« auf Granit gebissen und konnten weder mit ihren Revanchegelüsten hinsichtlich der Versailler Nachkriegsordnung noch mit Antisemitismus bei ihm punkten.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Oktober 2008


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