Im Sieg keimt die Niederlage
Die AKP-Regierung fährt unverändert einen antidemokratischen, islamischen Kurs. Mit jedem weiteren Schritt in diese Richtung stärkt sie die türkische Volksbewegung und forciert ihren politischen Ruin
Von Gazi Ates *
Hätte vor einem Monat jemand gesagt, daß im Westen der Türkei in mehreren Städten Zehntausende Menschen in Lice in der Provinz Diyarbakir gegen einen brutalen Angriff der Armee auf demonstrierende Kurden scharf protestieren würden? Und mehr noch, daß sie, die türkische Nationalfahne schwingend, diese blutige Aggression sogar in kurdischer Sprache (»Biji biratiya gelan« – »Es lebe die Brüderschaft der Völker«) verurteilen würden? Den hätte man mit Recht für einen politischen Träumer gehalten. Doch all das hat sich tatsächlich Ende Juni in der Türkei ereignet.
Diese Antwort der demokratischen Volksbewegung auf den Armee-Einsatz hat eine auf Spaltung und Feindschaft zielende Taktik der Regierung von Recep Tayyip Erdogan von vornherein zum Scheitern verurteilt. Für den Ministerpräsidenten war die Massenbewegung auf dem Taksim-Platz in Istanbul gegen den innenpolitischen Friedensprozeß mit der kurdischen PKK gerichtet. Offensichtlich wollte er die türkische Bevölkerung gegen den Protest gewinnen, zumal er die AKP-Regierung seit ein paar Monaten als »Friedensstifter« in dem Jahrzehnte währenden bewaffneten Kampf gegen die PKK aufgebaut hatte: »Wir haben den Friedensprozeß begonnen« und »Wir werden die Terrorfrage lösen«. Der von ihm ausgespielte Trumpf gegen die jüngste demokratische Volksbewegung stach aber nicht. Das Gegenteil ist eingetroffen: Nun diskutieren in den Parks zahlreicher Städte Kurden und Türken gemeinsam über ihre Sorgen und Forderungen. Zahlreichen Wortführern der neuen Volksbewegung ist der Friedensprozeß eine zu ernste Frage, um sie allein der Regierung zu überlassen. Viele türkische Jugendliche sehen in »den Kurden« nicht mehr »die anderen«.
Nun kann zusammenwachsen, was zusammengehört. Schließlich haben beide Bewegungen – die kurdische nationale Bewegung und der Gezi-Widerstand – objektiv ein und dasselbe politische Interesse: Demokratie und Freiheit. Beide Organisationen sind lediglich zwei verschiedene Erscheinungsformen eines objektiven politischen Problems. Das sich nun herausbildende Bewußtsein der Einheit und Solidarität in der demokratischen Bewegung reicht sogar noch weiter. Denn die Auflösung von kulturellen und politischen Vorurteilen betrifft nicht nur das Verhältnis der Türken und Kurden. Es geht auch um andere unterdrückte Gesellschaftsgruppen: etwa Frauen, Aleviten und die wegen ihrer sexuellen Identität Ausgeschlossenen.
Selbstverständlich sollte dabei nicht übersehen werden, daß das Zusammenwachsen der verschiedenen Bewegungen gerade erst beginnt und sich nicht problemlos gestalten wird. Es werden noch so manche Provokationen, aber auch eigene Schwächen zu überwinden sein.
Eine neue politische Situation
Die Erdogan-Regierung scheint angesichts der unerwartet ausgebrochenen Volksbewegung politisch überfordert. Während z.B. die Reaktion der Demokratiebewegung auf den eingangs genannten Angriff in Lice zukunftsweisend war, wußte der Sprecher der Regierungspartei, Hüseyin Celik, nichts anderes dazu zu sagen, als daß dies lediglich »eine kurdische Version der Gezi-Park-Vorfälle« sei. Wäre dem so, würde diese Erklärung nur bedeuten, daß auch das kurdische Volk – trotz des »Friedensprozesses« – gegen die Regierung protestiert. Denn der Gezi-Widerstand war und ist eindeutig eine demokratische Massenempörung gegen die Regierung.
Zugleich sah Erdogan nirgends einen Volksprotest. Für ihn waren die »Gezi-Park-Vorfälle« nur »ein internationales Komplott« der »Zinslobby«.[1] Seine Regierung ist daher weit davon entfernt anzuerkennen, daß das »eigene Volk« für autarke Rechte und Freiheiten auf die Straßen geht. Nach Ansicht der Staatsführung ist es unmündig. Protestiert es, dann kann dies nur ein Werk fremder Mächte sein. Mit diesem »Argument« versucht Erdogan, die Bewegung zu kompromittieren. Doch es ist, weil bisher fast jede Volksopposition als »ausländisch infiltriert« gebrandmarkt wurde, mittlerweile derart abgenutzt, daß es nicht mehr wirkt.
Überhaupt hat es den Anschein, daß die nach Jahren politischer Erfolge geradezu siegestrunkene Regierung nicht erkennen will oder kann, daß in der Türkei nach den Demonstrationen im Zusammenhang mit dem Gezi-Park eine neue Situation entstanden ist. Das Kabinett, allen voran Erdogan, handeln aber noch wie zuvor: »Wir vertreten die Mehrheit«, »Wir haben die Herrschaft der Eliten beendet«, »Wir haben der politischen Kuratel der Militärs ein Ende gesetzt« etc. Derartige Demagogie hatte sich zwar vor den Protesten zur Machtsicherung und -erweiterung bewährt, mittlerweile greift sie aber nicht mehr. Die auf den Straßen demonstrierenden, in den Foren in den Stadtparks diskutierenden und sich organisierenden Jugendlichen, die Frauen und Männer, unter ihnen die Intellektuellen und die Werktätigen, wollen grundlegende demokratische Freiheiten und insbesondere Mitspracherechte im öffentlichen Leben. Gegenüber diesen Forderungen sind die bis vor kurzem gemachten Demokratisierungsversprechungen der Herrschenden nur noch vage, konturlos und gestrig.
Anders ausgedrückt: Der »siegestrunkenen« AKP-Regierung stehen nun Massen gegenüber, die ihre Erstarrung und Angst verloren und Selbstvertrauen dazugewonnen haben. Darum wird in dieser neuen, seit Jahrzehnten einmaligen politischen Konstellation jede selbstherrliche Reaktion der Staatsführung die Bevölkerung nur umso mehr aufwecken. Jede weitere staatliche Arroganz und Willkür wird bei den durch Widerstand politisierten Menschen nichts anderes bewirken, als die politische Selbstfindung zu beschleunigen.
Der »moderate Islam« ...
Aus historischer Sicht überlebte politische Kräfte erringen nur dann Siege, wenn sie gesellschaftliche Forderungen ihrer Zeit erfolgreich für eigene Zwecke instrumentalisieren können. Die Dialektik solcher Siege ist aber die, daß in ihnen zugleich die gesellschaftspolitischen Bedingungen für die Niederlage der gegenwärtigen Gewinner heranreifen. Denn eine erfolgreiche Instrumentalisierung von Interessen der Bevölkerung in einem Klassenstaat bezweckt nicht deren Durchsetzung, sondern im Gegenteil: Diese sind als Mittel dem eigentlichen Zweck untergeordnet. Je mehr also jene historisch überlebten Kräfte sich ihrem angestrebten Herrschaftsziel nähern, umso deutlicher tritt ihr rückständiger Charakter hervor. Umso greifbarer wird auch die Diskrepanz zwischen den instrumentalisierten zeitgemäßen gesellschaftlichen Forderungen der Bevölkerung und den durch die Siege sich deutlich offenbarenden, nicht mehr zeitgemäßen Zwecken, wie Islamisierung des öffentlichen Lebens, autoritäres Staatsverständnis etc. Aus dieser Dialektik erklärt sich letztendlich, warum die religiös-konservative Regierungspartei AKP im Zenit ihres Erfolges eine große Welle der Empörung der Volksmassen ausgelöst hat. Insofern ist Maximilian Popp zuzustimmen, der im Spiegel vom 24. Juni 2013 feststellte: »Erdogan hat die Generation Gezi selbst geschaffen.«
Es ging im Kampf der AKP gegen die Vorherrschaft der Militärs, wie bis vor kurzem ihr nahestehende Liberale stets propagiert haben, nicht um den Aufbau einer bürgerlich-zivilen Gesellschaft, sondern, darum, wer im Staat das Sagen hat. Er sollte so »reformiert« werden, daß die von der Partei vertretenen neuen Kapitalgruppen einen Zugriff auf den Staat erhalten. Zumal auch die türkische Bourgeoisie einer zunehmend liberalisierten nationalen Wirtschaft nach einem entsprechenden politischen Überbau verlangte. Zu viele ökonomische und zivilgesellschaftliche Befugnisse und Bereiche lagen aus ihrer Sicht in den Händen der Staatsbürokratie.
Mit diesem im Kampf der AKP mit dem Militär vollbrachten Umbau der Gesellschaft kam es auch zu einem historischen Kompromiß zwischen den reaktionären und religiösen Kräfte. Er wurde von den USA herbeigeführt. Die Hegemonialmacht sah sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion genötigt, auch im Rahmen ihrer Pläne für den Nahen Osten, eine neue Türkei-Politik zu verfolgen. Es war offensichtlich, daß der Überbau eines Landes, dessen Unterbau, die Wirtschaft, im Zuge der Globalisierung radikal liberalisiert werden sollte – alle nationalen Wirtschaftsbarrieren mußten gegenüber dem internationalen Kapital aufgehoben werden –, nicht mehr in kemalistisch-militärischer Tradition zu erhalten war.
Was die Politik der AKP seit ihrem Machtantritt auszeichnete war, daß sie sich gegenüber dem oben erwähnten vergeblichen Unterfangen der Militärs als die »Partei der Veränderung und Demokratie« positionieren konnte. Dadurch bezog die AKP auch das Verlangen breiter Volksschichten nach Reformierung des politischen Status quo bei Wahlen auf sich. Die Militärs waren schließlich nicht bereit, ihre aus der Geschichte herrührenden Machtanspruch und die damit zusammenhängenden politischen und wirtschaftlichen Privilegien abzutreten. Diese beruhten darauf, daß die aus dem Osmanischen Reich hervorgegangene Armee als die Gründer der Republik galt; das heißt zugleich, daß die Armee sich auch als der Garant des Laizismus und der säkularen Lebensweise verstand und ausgab. Der Widerstand schöpfte also seine »Legitimität« aus dieser besonderen historischen Tatsache.
Doch die politische Lage hatte sich 1990 weltweit geändert. Der Kalte Krieg war zu Ende; der »Sieg über den Kommunismus« proklamiert. Ausgehend vom neuen Kräfteverhältnis verlangte das internationale Kapital nun von allen abhängigen Ländern eine umfangreiche politisch-wirtschaftliche Umstrukturierung. Eine große »Globalisierungswelle« rollte über die Länder hinweg und veränderte ihre gesellschaftlichen Strukturen. Wer sich dem widersetzte, wurde an den Pranger gestellt. Und umgekehrt galt: Jeder, der diese forcierte Ausbeutung und Plünderung unterstützte, wurde extra gefördert.
Somit hat eine Besonderheit der Türkei, die Existenz einer wirtschaftlich und politisch enorm starken militärischen Kaste, zu einer weiteren Eigenart geführt: Eine sich als konservativ bezeichnende Partei wurde zum politischen Träger und Motor einer umfangreichen Veränderung bzw. Auflösung von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen des Landes. Der politische Islam konnte sich zum Vertreter des »Fortschritts« aufschwingen, während die als »Garanten der Republik und des Säkularismus« auftretenden Kräfte – die Kemalisten und die Armee – die Reaktion repräsentierten.
So wie es unmöglich war, den Überbau eines zunehmend wirtschaftlich liberalisierten Landes im Korsett einer militaristischen Ideologie und eines solchen Staatsverständnisses langfristig zu konservieren, so ist es auch nicht möglich, einer Gesellschaft, deren kulturelle und soziale Struktur bis in alle Poren hinein durch das Kapitalverhältnis umgewälzt und aufgelöst werden, langfristig eine religiöse, teilweise seit der Feudalzeit tradierten Kultur und Lebensweise aufzuzwingen.
... am Anfang seines Ende
Dies war, historisch gesehen, die Funktion der islamischen Ideologie und des Konservatismus der AKP: Was die radikale kapitalistische Liberalisierung der Wirtschaft in sozialer und kultureller Hinsicht auflöste, wurde mit Religion und konservativen Tugenden neu zusammengesetzt. Die Wirtschaftspolitik der AKP – ein Mix aus billiger Arbeitskraft, ausländischem Kapital und boomender Baubranche – förderte den Aufschwung,[2] während ihr Konservatismus zum Schutz vor der Entfremdung der islamischen Gesellschaft durch eben diesen Aufschwung proklamiert wurde. So wurde z.B. von der Bewahrung der Familie gesprochen, obwohl die gleichzeitig forcierten prekären Arbeitsverhältnisse deren materielle Grundlage untergruben.
Der »moderate Islam«, wofür die AKP von Marktliberalen und westlichen Staaten hoch gepriesen wurde, schien ein neuer Aufhebungsmodus bestimmter Widersprüche zu sein: Der Liberale konnte jetzt Muslim und der Muslim liberal sein – eine Art Reformation des Islams ohne eine theoretische Begründung desselben liefern zu müssen. Der allgemeinen ideologischen Zersetzung und Orientierungslosigkeit des Postmodernismus konnte der Islam sinngebend entgegengesetzt werden. Statt des Individualismus und der latenten Einsamkeit der Menschen zählte die Geborgenheit der religiösen Gemeinde. Der gewerkschaftlichen Organisation wurde die Zugehörigkeit zur Gemeinde gegenübergestellt, der Austragung von Arbeitskämpfen die religiöse Zuversicht über die Bestrafung des Ungerechten im Jenseits etc. Kurzum, der Pelz konnte gewaschen werden, ohne daß er naß wurde.
Jedoch, grundlegende Widersprüche einer kapitalistischen Gesellschaft lassen sich innerhalb des Systems nur dem Schein nach beheben. Der Gezi-Widerstand und die ihm folgenden Massenkämpfe haben unmißverständlich gezeigt, daß dieses Gesellschaftskonzept keine Zukunft hat. Nicht jedes zweckgerichtete Mittel erweist sich am Ende auch als zweckgerecht.
Die Ungereimtheiten dieses Konzepts traten schon lange vor dem Gezi-Widerstand in Erscheinung. Ein gravierendes Beispiel dafür ist die in der Regierungszeit der AKP rapide steigende Anzahl von Morden an Frauen. Wesentlicher Grund für diese Entwicklung ist die Tatsache, daß die durch das Kapitalverhältnis aufgelösten sozialen Strukturen und die in diesem Prozeß sich herausbildende Lebensweise mit der bestehenden und von der AKP forcierten religiösen Ideologie und der konservativen Kultur kollidieren. Den Preis für den Mangel an fortschrittlich-demokratischer Kultur zahlen Frauen mit ihrem Leben.
Eine historische Zäsur
In der Türkei hat sich die Bourgeoisie nicht in bürgerlichen Formen wie z.B. in Frankreich entwickelt. Es kam nicht zur Herausbildung einer freien Presse und einer gesellschaftlich verankerten bürgerlich-demokratischen Öffentlichkeit. Die politische Kultur und Tradition erlangten in dem Land daher nie ganz ein solches Niveau. Statt dessen ist die relative Selbständigkeit des Staates für bürgerliche Verhältnisse stark ausgeprägt. Alles wurde durch diese Obrigkeit bestimmt und dekretiert. Sein Selbstverständnis liegt in der Einstellung, daß das Volk bzw. die Nation für den Staat da sei. Daher ist das wochenlange Aufbegehren von Millionen Menschen in 77 Städten als eine historische Zäsur zu bewerten, deren Tragweite sich mit der Zeit sicherlich viel deutlicher zeigen wird.
Das Aufbegehren beweist jetzt schon, daß Millionen Menschen, die von der politischen Mitsprache und Mitgestaltung de facto ausgeschlossen sind, diesen undemokratischen Zustand nicht weiter hinnehmen wollen. Das hat dazu geführt, daß verschiedenste Gesellschaftsschichten und politische Strömungen zusammengekommen sind. Erdogan ist Zielscheibe ihres Protests geworden. Es hat sich aber auch schnell erwiesen, daß man sich nicht nur auf seine Person fokussieren kann.
Die Forumsdiskussionen in den Parks zahlreicher Städte lassen bereits erkennen, daß ein Bewußtsein über notwendige Erweiterung der konkreten demokratischen Forderungen und damit auch der Perspektive der Bewegung heranwächst. Ohne diesen Prozeß können die Massen, die noch Erdogan und seine Regierung unterstützen, nicht erreicht werden. Andererseits wirkt die Dialektik von Niederlagen in Siegen: Erdogans Versuche, seine Willkür und Arroganz dadurch zu legitimieren, daß er bei den Wahlen 50 Prozent der Stimmen bekommen habe, führten dazu, daß die Krise der repräsentativen Demokratie deutlicher wurde. Für die westlichen Staaten, allen voran die USA, sind »freie Wahlen« seit Jahrzehnten Maßstab für Demokratie. Dieser gerät jetzt zunehmend in die Kritik: Wie legitim ist noch eine »demokratisch« gewählte Regierung, wenn Millionen Menschen auf der Straße abstimmen? Legitimiert die Wahl einer Regierung alle ihre Entscheidungen? Was ist die Alternative zur repräsentativen Demokratie? Die direkte Demokratie? Partizipative Demokratie?
Diese und ähnliche Fragen werden in der Türkei rege diskutiert. Sicherlich wird die Bewegung noch einige Zeit brauchen, um dazu einen realistischen Standpunkt zu gewinnen. Für ihre erfolgreiche Entwicklung ist es aber u.a. wichtig, die Wurzeln der Krise der repräsentativen Demokratie freizulegen. Diese liegen nicht in der Repräsentanz schlechthin, sondern in ihrem Inhalt – also im Verständnis dessen, welche Interessen welcher Klassen überhaupt repräsentiert werden. Daher werden Ansätze, die sich lediglich auf Modifikationen der türkischen Ausprägung der bürgerlichen Demokratie konzentrieren, nur zur Selbsttäuschung führen.
Ein weiterer erwähnenswerter Aspekt ist: Der Gezi-Widerstand und die daraus entstandene Volksbewegung dürfen nicht nur in ihrem Verhältnis zur Regierung betrachtet werden. Deren Entwicklung ist auch eine schallende Ohrfeige für die gegenwärtige bürgerliche Opposition im Parlament. Daß »die Straße« in diesen historischen Ausmaßen auf die politische Bühne getreten ist, bedeutet nichts anderes, als daß die parlamentarischen Widersacher der Regierung die Unzufriedenheit und die Forderungen der breiten Massen nicht kanalisieren konnten.
Überhaupt hat sich die demokratische Volksbewegung nicht innerhalb des bestehenden politischen Koordinatensystems positioniert; ein Umstand, der unterstrichen werden muß. Zum Beispiel wurde die Hegemonie des religiösen Konservatismus nicht ausschließlich vom Standpunkt eines kemalistischen Säkularismus bzw. Laizismus aus kritisiert, wohl aber aus einer fortschrittlich-demokratischen Perspektive. Deshalb konnte die Bewegung auch religiöse Menschen und Kräfte – etwa die »Antikapitalistischen Muslime« – in den Kampf hineinziehen. In mehreren Städten des Landes brechen im Ramadan abends die Demonstranten gemeinsam mit den anderen Menschen das Fasten – und zwar auf der Straße. Selbstverständlich ist die Bewegung nicht frei von bestehenden ideologischen und politischen Polarisierungen, aber ihr Verhältnis zu diesen ist mittlerweile eher ein äußerliches.
Die demokratische Volksbewegung hat jetzt schon einiges erreicht. Sie hat im politischen Leben des Landes eine neue Phase eingeläutet. Die gesellschaftliche Überwindung der Angstschwelle, das Vertrauen in die eigene Kraft, das Zerbröckeln von bestimmten politischen Vorurteilen, die Verstärkung der Idee der Solidarität, die Verbreitung des Bewußtseins über die Notwendigkeit der eigenen Organisierung und Handlung sind ihre wichtigsten Errungenschaften. Sicherlich hat die Bewegung noch viele ideologische, politische und organisatorische Schwächen. Eins ist aber klar: Jede politische Strömung bzw. Partei, die der Versuchung unterliegt, dem Protest ihre eigene Linie aufzuzwingen, wird nur Schaden anrichten. Die junge Volksbewegung benötigt aktive Mitarbeit. Aus Selbsterfahrung lernend und durch den aktiven Beistand von fortschrittlichen und marxistischen Kräften wird sie im Prozeß des Kampfes ihren Blickwinkel erweitern.
Anmerkungen
-
Erdogans Gefasel von einem »internationalen Komplott« ist widersprüchlich, weil er ohne die große Unterstützung des internationalen Kapitals weder seine Macht erhalten und ausbauen noch das bisherige Wirtschaftswachstum, womit er sich stets brüstet, vorweisen könnte.
- Es gehört zur Realität dieses Wirtschaftsliberalismus, daß allein im Juni dieses Jahres 104 Arbeiter bei sogenannten Arbeitsunfällen gestorben sind.
* Gazi Ates¸ ist freier Journalist und schreibt u.a. für die in Istanbul erscheinende Tageszeitung Evrensel.
Aus: junge Welt, Montag, 22. Juli 2013
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