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Erdogan sieht überall "Vandalen"

Ratlosigkeit der Regierung nach einem weiteren Protestwochenende in der Türkei

Von Jürgen Gottschlich, Istanbul *

Der türkische Regierungschef Erdogan lehnt vorgezogene Wahlen ab. Stattdessen beschimpft er die Protestierenden erneut als Vandalen. Diese fordern zu Tausenden auf dem Taksim-Platz seinen Rücktritt. Auch die Polizei will nicht mehr – und berichtet von Selbstmorden in ihren Reihen.

Die Istanbuler haben genug. Am Sonntagnachmittag hallte der Taksim-Platz im Zentrum der Stadt erneut von den Rücktrittsrufen Tausender Demonstranten an die Adresse von Ministerpräsident Erdogan zurück. Wie viele dem Aufruf der »Taksim-Plattform«, die die Besetzung des Gezi-Parks ursprünglich organisiert hatte, gefolgt waren, ist schwer zu sagen. »Man hat das Gefühl, hier sind eine Million Leute«, meint eine Teilnehmerin, »aber niemand hat wirklich einen Überblick.«

Trotz der drangvollen Enge auf dem Platz ist die Stimmung ausgezeichnet. Immer wenn die U-Bahn eine neue Ladung Protestler an die Oberfläche entlässt, werden sie von den Umstehenden mit großem Beifall begrüßt. Von einer improvisierten Bühne aus ruft eine der Gezi-Park-Besetzerinnen in die Menge: »Ich habe seit Tagen nicht mehr geschlafen, ich nehme Schmerzmittel und kann mich kaum noch auf den Beinen halten, aber ich werde auf keinen Fall den Gezi-Park räumen.«

Andere sandten Grüße an die Demonstranten in weiteren Städten der Türkei; in Adana am Mittelmeer hatte die Polizei in der Nacht zuvor erneut Protestierende mit Tränengas und Wasserwerfern angegriffen. Am Taksim-Platz war dagegen weit und breit keine Polizei zu sehen, lediglich ein Polizeihubschrauber umkreiste den Platz und die nähere Umgebung.

Schon am Sonnabendnachmittag war es zu einer bis dahin in Istanbul noch nie da gewesenen Solidaritätsaktion für die Besetzer des Gezi-Parks gekommen. Die Fan-Klubs der drei großen Fußballvereine der Stadt – Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas – hatten zu einer gemeinsamen Aktion zur Unterstützung der Aktivisten aufgerufen. Einträchtig wie nie marschierten die normalerweise verfeindeten Fans zu Tausenden zum Taksim-Platz.

Unterdessen tourt Ministerpräsident Tayyip Erdogan durch die Türkei, um seine Unterstützer zu mobilisieren. Zuerst in Adana, dann in Mersin und zum Abschluss des Tages in Ankara sprach er auf großen Kundgebungen zu Anhängern seiner Regierungspartei AKP. Doch viel mehr als Ratlosigkeit hatte er nicht zu bieten. Erneut fiel ihm nichts anderes ein, als die Protestierenden als »Vandalen« zu beschimpfen, die keine Ahnung von der Freiheit hätten, die sie fordern würden.

Seit Erdogans Rückkehr von einer viertägigen Nordafrikareise am Freitagabend wartet die Nation darauf, welchen Weg die Regierung nun einschlagen werde. Am Sonnabend und Sonntag tagte dann ein erweiterter Parteivorstand der AKP. Während der Abwesenheit von Erdogan hatten sich Staatspräsident Abdullah Gül und Erdogan-Stellvertreter Bülent Arinc wegen der Polizeiübergriffe entschuldigt und einen Dialog angeboten.

Davon will Erdogan aber nichts wissen. Im Parteivorstand kursierte stattdessen der Vorschlag, Parlamentswahlen von 2015 auf das Frühjahr 2014 vorzuziehen, um den »Vandalen« eine Antwort an der Urne zu geben. Im März kommenden Jahres finden landesweite Kommunalwahlen statt und einige führende AKP-Funktionäre hatten vorgeschlagen, die Parlamentswahlen mit den Kommunalwahlen zusammenzulegen. Doch Erdogan entschied sich dagegen; offenbar ist er sich nicht sicher, ob er in naher Zukunft wieder ein so gutes Wahlergebnis erreichen könnte wie 2011, als er nahezu 50 Prozent der Stimmen gewann.

Wenn er aber den Dialog mit den Protestierenden oder Neuwahlen ausschließt, bleibt letztlich nur Gewalt. Doch die Polizei will nicht mehr. Ihre Gewerkschaft hat gestern bekannt gegeben, nach teilweise 120 Stunden Dauereinsatz seien die Männer am Ende; es habe bereits sechs Selbstmorde von Polizisten gegeben. Für das kommende Wochenende hat die AKP nun ihre Anhänger zu Großdemonstrationen in Istanbul und Ankara aufgerufen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 10. Juni 2013


"Überall Widerstand"

Ob die Platzbesetzungsbewegungen in der Türkei mit dem Rücktritt der Regierung enden oder nicht – gewonnen haben sie schon jetzt

Von Thomas Eipeldauer, Istanbul **


Die Istiklal Caddesi, die zum Taksim-Platz führende Einkaufsstraße in Istanbul, ist heillos überfüllt. Tausende ziehen zu dem politisch so bedeutenden Platz oder von ihm weg, immer wieder laufen einzelne Gruppen, die rote Fahnen, Türkei-Flaggen oder T-Shirts mit dem Konterfei von Mustafa Kemal Atatürk tragen, aneinander vorbei. Wenn einer anfängt, etwas zu rufen, stimmen sofort alle Umstehenden mit ein. »Die Regierung soll zurücktreten«, »Schulter an Schulter gegen Faschismus«, »Überall Taksim, überall Widerstand«, skandieren sie und klatschen, schreien oder pfeifen.

Seitdem die Polizei am 30. Mai ein Camp von Aktivisten, die gegen den Umbau des nahe des Taksim gelegenen Gezi-Parks protestierten, geräumt hat, ist einiges geschehen. Seit dem 31. Mai wuchs sich die Bewegung zu einem landesweiten, Hunderttausende mobilisierenden Aufstand gegen die Regierung des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) aus. Am Taksim-Platz mußte die Polizei sich nach harten Auseinandersetzungen zurückziehen, man sieht kein Blaulicht mehr in der gesamten Gegend, dafür Spuren eines heftigen Kampfes: Dutzende, teils meterhohe Barrikaden, ausgebrannte Polizeifahrzeuge, Pflastersteindepots.

Warum ist das passiert? Erdogan schien so fest im Sattel zu sitzen, niemand hätte sich wohl noch vor zwei Wochen träumen lassen, daß sich wegen der paar Bäume im Gezi-Park die halbe Bevölkerung der Türkei gegen die AKP-Regierung erhebt. Es ist lang aufgestaute Wut, die sich hier Bahn bricht. Einige der Gründe kennt auch die deutsche Berichterstattung: Die Islamisierung der Gesellschaft, die bei vielen Bürgern auf Ablehnung stößt; die Stadtumstrukturierung gerade auch in Istanbul, die weit über den geplanten Umbau des Gezi-Parks hinausgeht; manche erwähnen immerhin noch den immer autoritärer werdenden Regierungsstil Erdogans.

Andere Ursachen finden keine Erwähnung (genauso wie die Rolle der zwar zersplitterten, aber doch starken radikalen Linken systematisch verschwiegen oder kleingeredet wird). Zu diesen zählt zum Beispiel der neoliberale Umbau der Gesellschaft, den die derzeitige Regierung forciert, vor allem aber auch die von vielen als USA-hörig empfundene Außenpolitik. »Kaum jemand in diesem Land will einen Krieg gegen Syrien«, sagt Achmed, Aktivist einer linksnationalistischen, kemalistischen Gruppe. »Dieser Kampf ist auch einer gegen den Imperialismus.« Hinzu kommt die staatliche Repression gegen oppositionelle Gruppen. Tausende sitzen in den Gefängnissen, ihre Menschenrechte werden mißachtet, Folter, Isolationshaft und fehlende medizinische Versorgung kranker Gefangener sind »normaler« Bestandteil des türkischen Gefängnissystems.

Die gegenwärtige Bewegung ist auch eine Frauenbewegung: »Die Frauen akzeptieren nicht länger, daß ihnen das Recht, über ihren eigenen Körper zu bestimmen, abgesprochen wird«, sagt Figen Yüksedag, Vorsitzende der sozialistischen Partei ESP, gegenüber jW. Mindestens drei Kinder soll, geht es nach dem Willen des Premiers, jede türkische Frau gebären, das Abtreibungsrecht soll eingeschränkt werden.

Kurden, Kemalisten, Aleviten, Armenier, revolutionär-sozialistische Organisationen, Anarchisten, ja sogar eine Gruppe »antikapitalistischer Muslime« kampieren derzeit auf dem Platz. Ein langfristiges gemeinsames Projekt haben sie nicht, aber man wächst immer mehr zusammen. Zwischen Kurden und Kemalisten kommt es zwar immer noch zu Massenschlägereien, aber die Auseinandersetzungen sind weniger geworden. Man lernt, neben- und, wenn die Polizei angreift, sogar miteinander zu leben. Die kurzfristigen Forderungen sind allen gemeinsam: Ein Ende der Kriminalisierung der Bewegung, der Stopp der Bebauung des Gezi-Parks, das Verbot des Einsatzes von Tränengas gegen Demonstranten. Und in einem weiteren Punkt herrscht Konsens: »Erdogan istifa«, der Premier soll zurücktreten.

Ob das allerdings zu erreichen ist, daran haben viele Zweifel. Dennoch sind alle sehr begeistert von dem, was erreicht wurde. »Die Menschen haben gesehen, daß es keine Macht gibt, die nicht besiegt werden kann. Die Zukunft wird nicht bestimmt sein durch Angst und Passivität, sondern durch Hoffnung, durch Mut und Freiheit«, sagt Figen Yüksedag.

Verbringt man eine Nacht bei den jungen Aktivisten auf den Barrikaden, merkt man, wie sehr diese Einschätzung zutrifft. Die Organisation des Widerstands ist beeindruckend. Die Gruppen, die Wache halten, sind mit Funkgeräten vernetzt, es gibt Melder, durchgängige Versorgung für alle mit Nahrung, Wasser, Medizin. Jugendliche in Schutzwesten, bewachen die Depots, in denen Brillen, Gasmasken, Zwillen und Steine gelagert sind. Spätestens als die Besiktas Hooligans von Carsi einen Bulldozer gegen die Polizei einsetzten, wurde auch dem letzten Uniformierten klar, daß die Leute hier sich nicht mehr vor Tränengas und Gummigeschossen fürchten.

Was entsteht, ist auch ein internationaler Austausch der Bewegungen. »Vor kurzem waren griechische Genossen da, wir haben uns über die unterschiedlichen Polizeitaktiken unterhalten und uns gegenseitig Tips gegeben, wie man sie schlagen kann«, berichtet ein junger Mann, der seit dem ersten Tag hier kämpft. »Die heutige Generation wird diese Erfahrungen nicht vergessen, und wenn der Moment kommt, werden sie auf die Erfahrungen, die sie hier gemacht haben, zurückgreifen und sie an andere weitergeben können«, sagt Figen Yüksedag.

* Aus: junge Welt, Montag, 10. Juni 2013


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