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Bürgermeister abgeführt

Die Nachfolgepartei der kurdischen DTP will sich als türkeiweite Linkspartei etablieren – doch schon jetzt ist sie massiver Repression ausgesetzt

Von Nick Brauns *

An den Büros der im Dezember vom Verfassungsgericht wegen angeblicher Unterstützung der PKK verbotenen linken Partei für eine Demokratische Gesellschaft DTP hängen jetzt die gelben Fahnen mit der grünen Eiche ihrer bereits 2008 »auf Vorrat« gegründeten Nachfolgerin, der Partei für Frieden und Demokratie BDP. Fast 100 frühere DTP-Bürgermeister sind in die BDP übergetreten, ebenso die nach dem gerichtlichen Politikverbot für DTP-Chef Ahmet Türk und die Co-Vorsitzende Aysel Tugluk verbliebenen 19 Parlamentsabgeordneten der aufgelösten DTP-Fraktion. Durch den Beitritt des sozialistischen Abgeordneten Ufuk Uras aus Istanbul konnte eine neue 20köpfige BDP-Fraktion gebildet werden. Ursprünglich hatten die DTP-Abgeordneten angekündigt, aus Protest ihre Mandate niederzulegen. Daß der Rückzugsbeschluß innerhalb einer Woche revidiert wurde, lag vor allem an der Mahnung des auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierte Abdullah Öcalan: »Die Lösung liegt im demokratischen Kampf«, ließ der PKK-Chef über seine Anwälte ausrichten. Ihm ist wichtig, daß die BDP sich als eine Türkei-weite linke Kraft entwickelt, »Die BDP darf keine Identitätspartei mehr sein.Alle sollen eingeschlossen sein, auch feministische Kreise, Umweltschützer und andere. Die BDP muß in vielen Farben erstrahlen; sie muß die Farbenvielfalt der Türkei reflektieren. ürken und Kurden haben ein gemeinsames Leben bitter nötig«, fordert Öcalan und nennt die 1972 vom Militär ermordeten türkischen Revolutionäre Mahir Cayan und Deniz Gezmis als Vorbilder.

Der Staat gibt der BDP kaum Gelegenheit, sich zu etablieren. Nur zwei Wochen nach dem DTP-Verbot wurden am 24. Dezember, als die neue Fraktion ihre Anerkennung bei Parlamentspräsidenten beantragen wollte, bei einer landesweiten Polizeioperation mehr als 80 BDP-Politiker festgenommen, darunter die Oberbürgermeister der Großstädte Siirt, Batman und Cizre, Selim Sadik, Nejdet Atalay und Aydin Budak sowie sieben weitere Bürgermeister. Die Staatsanwaltschaft wirft den anschließend verhafteten Politikern vor, der PKK anzugehören oder auf deren Weisung zu agieren. In der Anklageschrift heißt es, die PKK strebe in der Türkei eine »demokratische Republik« mit »freien Kommunen« an. Wer dieses Ziel teilt, gilt damit schon als PKK-Unterstützer. Daß die verhafteten Bürgermeister in erniedrigender Weise in Handschellen zum Gericht geführt wurden, sorgte für besondere Empörung. »Dem freien Willen können keine Handschellen angelegt werden«, hieß es auf Transparenten von Gewerkschaftern, die in mehreren kurdischen Städten in den Streik traten. Bei einer zweiten Festnahmewelle am 21. Januar kamen weitere 60 BDP-Aktivisten, darunter der Bürgermeister von Igdir, Nuri Günes, in Haft. Dutzende wurden zudem in den letzten Tagen bei Protesten gegen die Repression festgenommen. Noch traut sich die Staatsanwaltschaft nicht, den mit 66 Prozent gewählten Oberbürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir, einzusperren. Doch gegen den populären Politiker, dem aufgrund unzähliger Verfahren über 200 Jahre Haft drohen, wurde vor wenigen Tagen ein Ausreiseverbot erlassen.

Um ihre Solidarität auszudrücken, sind 35 bekannte türkische und kurdische Künstler und Intellektuelle gemeinsam der BDP beigetreten, darunter die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin, Ayla Yildirim vom Türkischen Friedensrat und Ebru Kiranci von der türkischen Schwulen- und Lesben-Vereinigung. Am Wochenende gingen Tausende Menschen in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei gegen die fortdauernde Repressionswelle auf die Straße. In einer gemeinsamen Erklärung von 330 Organisationen wurde die »Verleugnungs- und Vernichtungspolitik« verurteilt, mit der die islamisch-konservative AKP-Regierung die kurdische Frage zu lösen sucht. In Diyarbakir schlossen sich Arbeiter des staatlichen Tabakmonopols Tekel, die seit rund 40 Tagen gegen ihre drohende Entlassung streiken, dem Protest an. Wenn es der BDP gelingt, sich auch als Vertretung der gegen die neoliberale Regierungspolitik kämpfenden Arbeiter zu etablieren, könnte das ein Weg aus der Isola­tion als »kurdische Partei« sein.

* Aus: junge Welt, 28. Januar 2010


"Wir fordern Abschaffung der Putschverfassung"

Die prokurdische Partei BDP kämpft für eine Demokratisierung der Türkei. Gespräch mit Hüseyin Sahin

Hüseyin Sahin ist Landessprecher der linken prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie BDP in Istanbul.

Ihre Partei für Frieden und Demokratie BDP wurde im Mai 2008 gegründet, als ein Verbotsverfahren gegen die DTP lief. Welche Ziele haben Sie?

Die BDP tritt für eine demokratische und gerechte Lösung des türkisch-kurdischen Konfliktes ein. Unser Ziel ist, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen und den Kurden und allen anderen unterdrückten Völkern eine Stimme zu verleihen. Wir wollen alle Menschen in diesem Land vertreten: Kurden, Türken, Aleviten, Sunniten, Arbeiter, Gewerkschafter, Studenten, Künstler.

Wie schätzen Sie die von der AKP-Regierung betriebene »Politik der Öffnung« in der Kurdenfrage ein?

Das ist keine »Regierung der Öffnung«, sondern der Verschlossenheit. Auf der einen Seite betrieb die Regierung zwar eine gewisse Öffnung, als sie zunächst null Toleranz gegenüber Folter einforderte. Auf der anderen Seite gibt es weiterhin Repressionen gegen kurdische Intellektuelle, Parlamentarier, Oberbürgermeister, Künstler und sogar Kinder. Das DTP-Verbot und die damit verbundenen Verhaftungen haben gezeigt, daß die AKP-Regierung Heuchelei betreibt. Dazu kommen noch die militärischen Aktivitäten der Armee in den sogenannten Kampfzonen - diese sind sogar intensiver als zu Beginn der 90er Jahre. Können Sie sich einen Demokratisierungsprozess vorstellen, bei dem Demonstrationen niedergeknüppelt und jugendlichen Demonstranten die Knochen gebrochen werden? Diese sogenannte Öffnung hat zum Ziel, Kurden und diejenigen Türken, die gegen Krieg sind, zu täuschen. Die AKP identifiziert sich mit dem Reichsverständnis der Osmanen, das sich über den Islam definierte. Sie versucht, das kurdische Volk mittels eines Islam mit liberalem Antlitz in eine Falle zu locken, um die kurdische politische Bewegung aufzulösen oder zu marginalisieren. Gegenüber Europa versucht die Türkei, ein seriöses Bild abzugeben. Jedoch versteckt sich hinter der Krawatte Erdogans ein Fundamentalistenbart und eine blutige und unterdrückerische Politik.

Aber die Regierung von Recep Tayyip Erdogan hat doch Offenheit gegenüber den kulturellen Rechten der Kurden erklärt?

Zwar gibt es den staatlichen Fernsehsender TRT6, der in kurdischer Sprache sendet. Doch was TRT6 macht, ist, in kurdischer Sprache die kurdenfeindliche Regierungspolitik zu vermarkten! Die Kurden vertrauen den Schritten der Regierung nicht, solange dahinter keine in der Verfassung verankerten Garan­tien stehen. Ein dreißigjähriger Krieg und Zehntausende Tote lassen sich nicht mit einem TV-Sender abspeisen. Selbst objektiv positive Elemente der Politik der Öffnung werden vom kurdischen Volk und von allen demokratischen Kräften zurückhaltend bewertet, da man dem Gesamtkonzept nicht traut. Die BDP lehnt diese Scheinöffnung als heuchlerisch und falsch ab.

Wie beurteilen Sie die Spannungen zwischen der AKP und der Armee?

Es gibt keine prinzipiellen Differenzen zwischen beiden Seiten. Es gibt zwar einen Widerspruch zwischen der Armee und der Regierung dahingehend, daß die Regierung versucht, die geheimen Strukturen der Armee zu zerschlagen. Dabei geht es um die Kontrolle über den Staatsapparat. Es gibt aber keine Differenzen bezüglich der Kurdenfrage. Keine der beiden Seiten redet über die 17000 ermordeten Kurden, über die 3500 vernichteten Dörfer, die zigtausend Verhaftungen sowie die Vertreibungen, die von der Armee organisiert wurden.

Was erwarten Sie von der Europäischen Union?

Wir sehen in der EU keine Retterin. Wir verlassen uns auf unsere eigenen Kräfte und die Eigendynamik unserer Bewegung. Was wir jedoch von den Europäern erwarten, ist die Anerkennung unserer Rechte wenigstens im Rahmen der Menschen- und Bürgerrechte. Bisher waren die europäischen Länder leider heuchlerisch gegenüber uns - insbesondere die BRD mit ihren Waffenlieferungen für Ankara.

Welche konkreten politischen Forderungen stellt Ihre Partei heute?

Unser erstes Anliegen ist die Abschaffung der Putschverfassung aus dem Jahr 1982. Wir wollen eine neue Verfassung, die politische und demokratische Rechte für alle garantiert. Es ist nicht ausreichend, innerhalb der bestehenden Verfassung den einen oder anderen Paragraphen zu ändern, denn dann bleibt immer noch genug Spielraum, um Parteien zu verbieten. Zweitens müssen wir dem Staat deutlich zeigen, daß die kurdische Bewegung eine Führung hat, die nicht ignoriert werden darf. Drittens verlangen wir die Einführung der kurdischen Sprache im Schulwesen und die Gleichberechtigung dieser Sprache in den kulturellen und wissenschaftlichen Bereichen.

Interview: Mustafa Ilhan

** Aus: junge Welt, 27. Januar 2010


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