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"Die Türkei ist eine Mischung aus Schweiz und Bangladesch"

Cem Özdemir: Perspektive einer Mitgliedschaft in der EU ist Modernisierungshebel für verkrustete Gesellschaft

Seit drei Jahren verhandelt die Europäische Union mit der Türkei über einen Beitritt des Landes zur Gemeinschaft. Der anfänglich von Ankara an den Tag gelegte Reformeifer hat sich jedoch stark abgeschwächt, meint Cem Özdemir. Mit dem Europaabgeordneten der deutschen Grünen und außenpolitischen Sprecher seiner Fraktion (Grüne/Freie Europäische Allianz) im EU-Parlament sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Uwe Sattler.



ND: Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat erst kürzlich erneut betont, die Europäische Union wolle den Beitritt der Türkei. Will die EU tatsächlich die Aufnahme?

Özdemir: Ich bin mir sicher, dass es der Bundesaußenminister so gemeint hat, wie er es sagte. Nicht sicher bin ich mir aber, ob er für alle in der Europäischen Union sprechen kann. Wenn ich an manche Äußerungen aus der Staatsspitze Frankreichs denke, beschleichen mich da Zweifel, ähnliches gilt für Österreich. Ich weiß nicht, ob alle in der EU hinter den gemeinsam getroffenen Vereinbarungen stehen, mit der Türkei ehrlich gemeinte Beitrittsverhandlungen mit dem Ziel der Vollmitgliedschaft – bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen – zu führen.

Grundsätzlich: Warum sollte die Türkei in die EU?

Das haben europäische Spitzenpolitiker bereits in der Gründungsphase der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in den sechziger Jahren, entschieden, als man mit der Türkei ein Assoziierungsabkommen geschlossen hat. Damals wurde, beispielsweise von Walter Hallstein, dem ersten Präsidenten der EG-Kommission, davon gesprochen, dass die Türkei die Perspektive hat, eines Tages beizutreten. Doch trotz immer wieder erfolgter Bekräftigungen hat man wohl augenzwinkernd angenommen, es werde nicht zum Ernstfall kommen. Dann aber hat die Türkei in einem ziemlich atemberaubenden Reformtempo angefangen, sich zu wandeln. Plötzlich stand die Einlösung der Zusage der Europäer im Raum. An diesem Punkt sind wir heute. Heute geht es darum zu erkennen, dass ein Beitritt des Landes in europäischem Interesse liegt: Wenn die Türkei sich weiter demokratisiert und modernisiert, sich die Zivilgesellschaft weiterentwickelt, ist das Land ein Sicherheitspfeiler in einer wichtigen Regionen, der auch auf andere muslimische Staaten dort ausstrahlen kann.

In der EU wird aber gerade kritisiert, das Reformtempo in der Türkei habe nachgelassen.

Natürlich ist die Türkei für einen Beitritt noch nicht reif. Zum Stand 2008 muss man bilanzieren, dass das Reformtempo in der Türkei einerseits drastisch nachgelassen hat. Andererseits sind in der Europäischen Union leider die Akteure, die sich vehement für den Beginn von Beitrittsverhandlungen eingesetzt haben, nicht mehr an der Macht. Oder sie sind durch innenpolitische Herausforderungen soweit gebunden, dass sie für Außenpolitik und strategische Überlegungen, wie man die Türkei in Europa einbindet, keine Zeit und Energie mehr haben. Oder sie nutzen das Thema, um mit populistischen Positionen auf Stimmenfang gehen.

Wo sehen Sie Reformbedarf in der Türkei?

Eigentlich fast überall. Die Türkei hat in den 80er Jahren angefangen, ihre Wirtschaft zu öffnen – sie war bis dahin eine Art staatskapitalistische Wirtschaft. An dem grundsätzlichen Dilemma, nämlich dem Graben zwischen Reich und Arm und zwischen Osten und Westen der Türkei, hat sich allerdings nicht viel geändert. Ganz im Gegenteil. Die Türkei ist, drastisch formuliert, eine Mischung aus Bangladesch und der Schweiz. Wir haben auf der einen Seite Menschen, die keine Schule besuchen können, auf der anderen Seite gibt es in der Türkei mehr Professorinnen, mehr Frauen an der Spitze von Unternehmen als in Deutschland. Beides ist die Türkei. Dazu kommen andere Fragen, die »Webfehler« der türkischen Demokratie sind, wie zum Beispiel das Verhältnis von Staat und Religion oder der Umgang mit ethnischen und religiösen Minderheiten. In erster Linie geht es um eine Modernisierung der türkischen Demokratie und des türkischen Staates.

Hat die türkische Staatsspitze die Beitrittsgespräche nicht auch genutzt, um ihre innenpolitische Reputation zu erhöhen?

Das will ich nicht ausschließen. Positiv ausgedrückt könnte man sagen, in der Türkei hat man die Verhandlungen auch genutzt, um bestimmte Dinge mehrheitsfähig zu machen. Denken Sie beispielsweise an den Umgang mit Abdullah Öcalan nach dessen Festnahme. Damals gab es eine Drei-Parteien-Regierung, und eine der Parteien trat ausdrücklich mit dem Versprechen an, den Gründer der PKK zu hängen. Er ist bekanntlich nicht hingerichtet worden, was auch etwas mit der Europäischen Union und deren Position zu tun hat, dass die Todesstrafe und eine EU-Mitgliedschaft unvereinbar sind.

Oder nehmen Sie die Frage religiöser und ethnischer Minderheiten, die Menschenrechte – dabei ist immer klar, dass eine EU-Mitgliedschaft auch Modernisierungshebel für eine verkrustete Gesellschaft ist. Nicht von ungefähr plädieren gerade die Vertreter dieser Minderheiten für eine konsequente EU-Perspektive.

Dieser Einfluss der EU gefällt aber nicht allen in der Türkei.

Bedauerlicherweise sind die positiven Reformaspekte fast schon wieder vergessen. So gibt es in der Türkei weniger Korruption als früher, mehr Transparenz, man kann über mehr Themen offen reden Dafür gelingt es den Nationalisten und den Isolationalisten zunehmend, in der Debatte um eine EU-Mitgliedschaft Oberhand zu gewinnen. Sie erwecken den Eindruck, Brüssel mische sich in alles ein, schwäche die Türkei und verstehe das Land nicht. Solche Töne hört man zunehmend lauter. Und je mehr Äußerungen aus der EU kommen, die eine türkische Beitrittsperspektive in Zweifel ziehen, umso stärker werden diejenigen, die von Anfang an gegen eine Mitgliedschaft der Türkei waren.

Kippt die ursprüngliche Zustimmung der türkischen Bevölkerung zu einer EU-Mitgliedschaft?

Da muss man differenziert herangehen. Gerade wenn man EU-Befürworter befragt, treten der verletzte Stolz und die Meinung zutage, man werde unfair behandelt, gerade im Vergleich zu Bulgarien und Rumänien als jüngste Mitglieder der EU. Das hat dazu geführt, dass viele in der Türkei überzeugt sind, hier werde mit unterschiedlichem Maß gemessen was Korruption, Umgang mit Minderheiten oder Rechtsstaatlichkeit angeht. Liegt es etwa daran, fragt sich ein großer Teil der Menschen, dass die Türkei größer und islamisch ist oder dass man im Westen die Türken einfach nicht mag. Kurz: Die meisten Menschen sind schon für einen Beitritt, aber man glaubt nicht mehr daran, dass es etwas wird.

Was müsste die EU selbst tun, um die Gespräche wieder zu forcieren?

Die Europäische Union muss ein kraftvolles Signal aussenden, dass die Absicht, die Türkei aufzunehmen, ernst gemeint ist und das Land nicht einem Traum hinterherhängt, der keinerlei Aussichten hat, materialisiert zu werden. Das schließt die Erfüllung der entsprechenden Kriterien ein, da kann es keinen Rabatt geben. Denn was die EU von der Türkei verlangt, liegt ja durchaus im Interesse des Landes und der Bevölkerung. Wenn dies von europäischen Spitzenpolitikern glaubwürdig versichert und möglicherweise auch ein überschaubarer Zeitraum für den erfolgreichen Abschluss der Gespräche genannt würde, könnte in der Türkei auch wieder eine neue Reformdynamik entstehen. Gerade wenn man sich die kurdische Frage anschaut, muss man mit Bedauern sagen, dass sich die Falken sowohl beim türkischen Militär als auch in der PKK offensichtlich wieder nach den bürgerkriegsähnlichen Zuständen der 80er Jahre sehnen. Auch in anderen Bereichen erleben wir, dass der Spielraum der Regierung kleiner wird und zum Beispiel bei der inneren Sicherheit oder den persönlichen Freiheiten Reformen zurückgenommen werden. Man muss zugleich sagen: Mit dem Antiterrorkampf in Europa wurden der Türkei auch Vorlagen geliefert, die Ankara dankbar aufgenommen hat.

Wagen Sie eine Prognose, wann die Türkei Mitglied der EU sein könnte?

Es macht keinen Sinn, wenn man über Jahrzehnte spricht. Es geht um etwa eine Dekade, und in diesem Zeitfenster werden sich zwei Dinge entscheiden: Erstens, wie gestalten sich die EU und ihre Erweiterungsfähigkeit – Stichworte sind dabei Lissabonner Vertrag und die Reform der Union insgesamt. Zweitens wird in diesem Zeitrahmen deutlich werden, wohin die Reise in Ankara geht. Wird die Türkei es schaffen, ihren zentralistischen, stark nationalistischen Gründungsmythos soweit zu modernisieren, dass sie sich in Richtung einer modernen Demokratie entwickelt und ihren eigenen Weg findet? Wenn das der Türkei gelingt und wir uns als EU nicht paralysieren, dann kann es innerhalb von zehn Jahren ein türkisch-europäisches Erfolgsmodell geben.

Die Kopenhagener Beitrittskriterien

1993 legte der Europäische Rat in Kopenhagen Kriterien fest, die jeder Staat erfüllen muss, der EU-Mitglied werden will. 1995 wurden diese drei zentralen Bedingungen auf dem Gipfel in Madrid bestätigt:

Politisches Kriterium: Institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten.

Wirtschaftliches Kriterium: Funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten.

»Acquis«-Kriterium: Fähigkeit, die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen zu übernehmen und sich die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen zu machen (Übernahme des »Acquis communautaire«, also des des »gemeinschaftlichen Besitzstands«). (ND)



* Aus: Neues Deutschland, 18. Oktober 2008


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