Tabubruch in der Türkei
Festnahme von Ex-Generälen sorgt für Fragen
Von Jan Keetman, Istanbul *
In der Türkei hat die Festnahme namhafter Regierungsgegner im Zusammenhang mit dem
Verbotsprozess gegen die Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die politischen
Spannungen eskalieren lassen. Dabei hat die AKP mit der erstmaligen Verhaftung zweier
pensionierter hoher Armeegeneräle ein Tabu gebrochen.
Den Ex-Generälen Sener Eruygur und Hursit Tolon wird vorgeworfen, an Umsturzplänen der schon
vor einem Jahr teilweise aufgedeckten Geheimorganisation Energekon beteiligt gewesen zu sein.
Zusammen mit ihnen wurde auch der Chef der Handelskammer von Ankara, Sinan Aygün, verhaftet.
Aygün ist ein Mann mit vielfältigen politischen Kontakten und insbesondere engen Beziehungen zum
ehemaligen Führer der türkischen Volksgruppe auf Zypern, Rauf Denktasch. Am Dienstag wurden
noch 18 weitere Personen festgenommen, darunter ebenfalls hohe Militärs, alle nicht mehr im
Dienst, sowie zwei ultranationalistische Journalisten.
Seit Monaten sind bereits 49 mutmaßliche Mitglieder von Energekon in Untersuchungshaft, unter
ihnen der Vorsitzende der nationalistischen Arbeiterpartei (IP), Dogu Perincek, der in der Schweiz
wegen Leugnung des Völkermordes an den Armeniern im 1. Weltkrieg zu einer Geldstrafe verurteilt
wurde, und der pensionierte Oberst Veli Kücük. Auch der Anwalt Kemal Kerincsiz gehört dazu. Er ist
vor allem durch Strafanzeigen gegen Schriftsteller wie Orhan Pamuk und Elif Safak, gegen den
Orthodoxen Patriarchen und den armenischen Journalisten Hrant Dink aufgefallen. Dink wurde von
ihm auch bedroht – und später von einem nationalistischen Jugendlichen erschossen.
Energekon hat eine Vorgeschichte. Im März vergangenen Jahres veröffentlichte die Zeitschrift
»Nokta« Auszüge aus dem Tagebuch des Kommandanten der Seestreitkräfte, Özden Örnek, in dem
von Umsturzplänen der Militärs die Rede war. Demnach waren die Befehlshaber der türkischen
Teilstreitkräfte und der Gendarmerie im Jahr 2003 sehr beunruhigt. Die Kommandanten befürchteten
eine Islamisierung der Gesellschaft durch Erdogans AKP und nicht weniger Zugeständnisse an die
EU, insbesondere in der Zypernfrage. Der damalige Generalstabschef Hilmi Özkök war aber für
Putschpläne nicht zu gewinnen. Trotzdem arbeiteten sie einen solchen Plan aus und gaben ihm den
Namen »Blondine«. Ausgelöst werden sollte er durch Demonstrationen auf Zypern, gegen die
Wiedervereinigung der Insel.
Doch es kam ganz anders. Im Frühjahr 2004 stimmten die Türken auf Zypern mit großer Mehrheit
dem sogenannten Annan-Plan für die Wiedervereinigung zu, während die meisten Griechen ihn
ablehnten. Am Abend des Referendums mussten sich die verhinderten Putschisten eingestehen,
dass sie keinen Anlass mehr für einen Umsturz hatten. Nur der Befehlshaber der Gendarmerie,
Armeegeneral Sener Eruygur, wollte nicht aufgeben. Er soll einen zweiten Putschplan (»Mondlicht«)
entworfen haben, der darauf setzte, mit Hilfe nationalistischer Gruppen Unruhe zu stiften. Der Plan
sei aber durchgesickert, und die Regierung habe davon erfahren.
Örnek hat nach der Veröffentlichung die Echtheit des Tagebuches bestritten, und die Zeitschrift
»Nokta« musste auf Druck des Militärs ihr Erscheinen einstellen. Niemand machte Anstalten, gegen
die Kommandanten vorzugehen, bis jetzt Sener Eruygur festgenommen wurde. Hat er nach der
Pensionierung in seiner neuen Funktion als Vorsitzender der »Vereine für das Denken Atatürks«
weiter an »Mondlicht« gearbeitet?
Zugleich steht aber eine andere Frage im Raum: Hat sich die Regierung mit der Festnahme der
Generäle nicht vielleicht übernommen? Die Istanbuler Börse ging gleich nach der Meldung auf
Talfahrt und verlor fünf Prozent. Einige liberale Kolumnisten wie Ece Temelkuran und Fikret Bila von
der »Milliyet« waren auch noch aus einem anderen Grund besorgt: Seit Monaten sind zahlreiche
Kritiker der Regierung wegen Energekon in Untersuchungshaft, ohne dass die Öffentlichkeit die
Beweise für ihre individuelle Schuld kennt. Macht man sich mit Kritik an der Regierung in Zukunft
auch selbst verdächtig?
* Aus: Neues Deutschland, 3. Juli 2008
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