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Erdogan stoppt Friedensprozeß

Türkischer Premier erteilt Reformen in Kurdistan eine Absage. Unterdrückung fortgesetzt

Von Nick Brauns *

Die türkische Regierung habe keine Reformen zur Lösung der kurdischen Frage auf der Agenda. Mit dieser Feststellung hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch die Mitglieder eines von ihm selbst gebildeten »Rats der Weisen« im Präsidentenpalast Dolmabahce in Istanbul brüskiert. Die 63köpfige Kommission, der unter anderem Journalisten, Künstler, Wirtschaftsvertreter und Gewerkschafter angehören, war im April gebildet worden, um die Friedensgespräche zwischen dem inhaftierten Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, und Regierungsvertretern gegenüber der skeptischen Öffentlichkeit des Landes zu vermitteln. Zwei der bekanntesten Mitglieder des Gremiums, die liberalen Akademiker Murat Belge und Bas­kin Oran, hatten allerdings bereits am Dienstag ihren Rückzug angekündigt und diesen mit der gewaltsamen Niederschlagung der türkischen Protestbewegung durch die Polizei begründet.

Die »Weisen« hatten in den letzten Monaten landesweit über 300 Treffen mit mehr als 60000 Menschen durchgeführt. Dabei sei es ihnen gelungen, die Befürchtungen vieler Menschen zu zerstreuen, erklärte der Sprecher der regierenden islamisch-konservativen AKP, Hüseyin Celik, auf einer Pressekonferenz. Doch Gegner der Regierung blieben weiterhin kritisch gegenüber deren Anstrengungen zur Lösung des Konfliktes. Für eine dauerhafte Einigung in der kurdischen Frage sei deshalb eine neue zivile und demokratische Verfassung notwendig, heißt es im Bericht des Weisenrates. So verlange die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung im Südosten des Landes Garantien für ihre kulturellen und politischen Rechte durch politische Dezentralisierung und eine nicht mehr das Türkentum betonende Definition der Staatsbürgerschaft.

Während sich Öcalan am Montag gegenüber einer Delegation von Parlamentariern der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) zuversichtlich gezeigt hatte, nach Einleitung des Rückzuges der PKK-Guerilla aus der Türkei nun eine zweite Phase des »demokratischen Lösungsprozesses« beginnen zu können, rechtfertigte Erdogan nach Informationen der kurdischen Nachrichtenagentur Firat den von der PKK als Kriegsvorbereitung bezeichneten Neubau zahlreicher Militärstützpunkte in Kurdistan mit den Entwicklungen in den Nachbarländern Syrien, Irak und Iran. Auch auf dem von der örtlichen Bevölkerung abgelehnten Bau von Staudämmen in den kurdischen Landesteilen beharrte er. »Türkisch ist die einzige offizielle Sprache, und wir haben schon Kurdisch als Wahlfach eingeführt«, wies Erdogan zudem die Forderung nach muttersprachlichem Unterricht zurück. Auch die Zehnprozenthürde bei Wahlen will die Regierung nicht senken. »Sie müssen dafür arbeiten, um sie zu erreichen«, riet Erdogan kleineren Parteien wie der BDP, die bislang nur über Direktmandate ins Parlament kam, obwohl sie in einigen kurdischen Provinzen die Mehrheit der Wähler hinter sich vereinen konnte.

Unterdessen kündigte die Regierung Ermittlungen wegen der mutmaßlichen Gründung einer Polizeitruppe der PKK an, da auf im Internet kursierenden Videos eine militärische Zeremonie von Dutzenden mit Palästinensertüchern vermummten Mitgliedern der Patriotisch-Revolutionären Jugendbewegung (YDG-H) mit PKK-Fahnen zu sehen ist. Auf T-Shirts mit dem Bild Öcalans steht »Asayis« – das bedeutet »Sicherheit«. Die Asayis-Mitglieder hätten in der Stadt Cizre Kontrollposten errichtet, hieß es.

Auch bei den laufenden Massenprozessen gegen prokurdische Politiker, Journalisten und Anwälte zeichnet sich keine Entspannung ab. Mitte der Woche verurteilte ein Gericht in Diyarbakir neun Angeklagte aus Eruh zu jeweils rund zwölf Jahren Haft. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, »Verbrechen für eine illegale Organisation« begangen zu haben, »ohne deren Mitglied zu sein«. Gemeint ist der PKK-nahe Dachverband der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK).

Unter dieser Anklage befinden sich derzeit rund 8000 Politiker der BDP und andere Aktivisten in Untersuchungshaft.

* Aus: junge Welt, Freitag, 28. Juni 2013


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