Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Türkische Protestbewegung begrüßt Urteil in Sachen Gezi-Park

Gerichtsurteil fiel bereits vor knapp einem Monat *

Das Protestbündnis »Taksim Solidarität« sieht sich durch das jüngste Gerichtsurteil zum Baustopp im Istanbuler Gezi-Park in ihrem Kampf bestätigt. Ihr Engagement will sie fortsetzen. Den Demonstranten geht es nicht mehr nur um Bäume, sondern um ihre persönlichen Freiheiten.

Das türkische Protestbündnis »Taksim Solidarität« hat das Urteil eines Istanbuler Gerichts zum Stopp der umstrittenen Bebauung des Gezi-Parks in Istanbul begrüßt. Der Gerichtsentscheid zeige, dass der Kampf der Demonstranten gerechtfertigt gewesen sei, teilte das Bündnis mit. Die »Taksim Solidarität« kündigte zugleich an, ihr Engagement fortzusetzen.

Die landesweite Protestwelle in der Türkei hatte sich Ende Mai an der brutalen Räumung eines Protestlagers im Gezi-Park am zentralen Istanbuler Taksim-Platz entzündet. Später richteten sich die Demonstrationen aber vor allem gegen den autoritären Regierungsstil von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der sich persönlich für die Bebauung des Parks eingesetzt hatte.

Ein Gericht in Istanbul hatte Medienberichten vom Mittwoch zufolge die umstrittenen Bebauungspläne für den Gezi-Park für ungültig erklärt. Unklar blieb, ob die Entscheidung endgültig ist. Die Regierung plant im Gezi-Park bisher den Nachbau einer osmanischen Kaserne. Darin sollen Wohnungen, Geschäfte oder ein Museum entstehen. Sie hat angekündigt, einen gerichtlich verfügten Baustopp im Gezi-Park zu akzeptieren.

Medienberichten zufolge fällte das Gericht die Entscheidung bereits vor knapp einem Monat, als die Proteste besonders heftig waren. Warum das Urteil erst jetzt bekannt wurde, blieb offen. Der Sender CNN-Türk fragte am Donnerstag: »Warum wurde das Urteil verheimlicht?«

Die Polizei hatte den Park Mitte vergangenen Monats ein zweites Mal geräumt. Seitdem ist er von Polizisten abgeriegelt und für die Öffentlichkeit gesperrt. Er wurde zum Symbol des Widerstands gegen den autoritären Regierungschef Erdogan. Die Polizeigewalt bei den Protesten rief internationale Kritik an der Regierung hervor, die sie jedoch vehement zurückwies.

Die Polizei setzte Tränengas, Wasserwerfer und Plastikgeschosse ein. Vier Demonstranten und ein Polizist kamen ums Leben, tausende Menschen wurden verletzt. Der Streit um das brutale Vorgehen belastet auch den EU-Beitrittsprozess der Türkei.

Ministerpräsident Erdogan macht eine von ihm nicht näher definierte »Zinslobby« für die Proteste verantwortlich. Er wirft den Demonstranten vor, sich für die Zerstörung der Demokratie und der Wirtschaft der Türkei instrumentalisieren zu lassen. In Istanbul war es zuletzt am vergangenen Wochenende zu Massenprotesten gekommen.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 5. Juli 2013


Erdogans Schlappe

Von Martin Ling **

Es ist auf alle Fälle ein Punkt für das Protestbündnis »Taksim Solidarität«: Ein türkisches Verwaltungsgericht hat die geplante Bebauung des Gezi-Parks für nicht rechtmäßig erklärt. Einer der Kritikpunkte des Gerichtes: unzureichende Information der Anwohner. Exakt das Argument, weswegen die Proteste von Ende Mai bis Mitte Juni weit über den Park hinaus eine landesweite Dimension angenommen hatten. Premier Recep Tayyip Erdogan regiere autoritär wie ein Sultan, im Zweifel über berechtigte Anliegen von Bürgern hinweg. Das ist nun gewissermaßen gerichtsfest.

Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig. Die Regierung Erdogan hat die Möglichkeit, in Berufung zu gehen. Erdogan hatte Mitte Juni auf dem Höhepunkt der Proteste erklärt, das endgültige Urteil zu akzeptieren. Endgültig ist es noch nicht, aber das Verwaltungsgericht hat ihm nun eine Vorlage geliefert einzulenken. Verzichtet er auf eine Berufung, könnte er signalisieren, dass er die Botschaft der über zwei Millionen verstanden hat, die in 80 Städten mehrere Wochen gegen seine Selbstherrlichkeit demonstrierten. Mit der Wiedereröffnung des von Polizisten abgesperrten Gezi-Parks könnte er seine Lernfähigkeit sofort öffentlich demonstrieren. Allzu viel Hoffnung darauf sollte man sich jedoch nicht machen: Bisher hat Erdogan kein Anzeichen geliefert, dass er die Proteste für etwas anderes als einen Komplott hält. Und er weiß seine Anhänger hinter sich. Erdogan ist nun am Zug, aber auch unter Zugzwang.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 5. Juli 2013 (Kommentar)


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage