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Machtkampf unter Brüdern

Türkei: Erdogan will Nachhilfekurse der Gülen-Bewegung schließen

Von Nick Brauns *

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan will die zahlreichen privaten Nachhilfeinstitute im Land per Gesetz schließen. Deren Kurse würden die Kinder »reicher Familien in städtischen Zentren« bevorzugen, begründet Erdogan sein Vorgehen gegen die Dershane genannten Nachhilfeschulen. Das Vorhaben hat zu einem Aufschrei geführt. Denn Hintergrund ist nicht die Sorge der Regierung um Gerechtigkeit im Bildungswesen, sondern ein Machtkampf im Lager des politischen Islam. Schließlich sind die Dershane die Domäne der islamisch-pantürkischen Gemeinde (Cemaat) des im US-Exil lebenden pensionierten Imams Fethullah Gülen. An den rund 3200 Nachhilfeschulen mit 100000 Angestellten, deren Besuch für ärmere Schüler gratis ist, rekrutiert die Gülen-Gemeinde einen Großteil ihrer Anhänger. Nach dem Wahlsieg der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) im Jahre 2002 hatte Erdogan ein Bündnis mit der Cemaat geschlossen, die über einflußreiche Kader im Polizei- und im Justizapparat verfügt. Zahlreiche hochrangige Militärs, Staatsbürokraten und Journalisten wurden seitdem im Ergenekon-Verfahren aufgrund angeblicher Putschpläne zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Doch nach der gemeinsamen Ausschaltung ihrer laizistischen Gegner ist nun ein Machtkampf um Posten und Pfründe zwischen den religiösen Bündnispartnern entbrannt. So ließen Gülen-nahe Staatsanwälte im Februar 2012 Geheimdienstchef Hakan Fidan per Haftbefehl wegen Landesverrats jagen, weil dieser in Erdogans Auftrag mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhandelt hatte. Erdogan reagierte mit der Versetzung von Gülen-Anhängern im Polizei- und Justizapparat. Während der von Erdogan mit harter Hand niedergeschlagenen Gezi-Park-Proteste diesen Sommer opponierten Vizeministerpräsident Bülent Arinc und Staatspräsident Abdullah Gül, die beide als Gülen-Anhänger bekannt sind, offen und forderten einen nachgiebigeren Umgang mit der Protestbewegung. Vor allem wollen die Gülen-Anhänger verhindern, daß sich Erdogan zum nächsten Staatspräsidenten wählen läßt.

Die zum Gülen-Netzwerk gehörende auflagenstärkste Tageszeitung Zaman nannte die drohende Schließung der Dershanes einen »Bildungsputsch«. Mustafa Yesil, der Präsident der als Sprachrohr der Cemaat dienenden Journalisten- und Schriftsteller-Stiftung in Istanbul, warnte Erdogan vor negativen Konsequenzen bei den kommenden Wahlen. Geschätzte 30 Prozent der Wählerstimmen für die AKP kommen bislang von der Gülen-Gemeinde.

Vor allem in der von der AKP regierten Metropole Istanbul könnte die Cemaat bei den Kommunalwahlen im kommenden März ihr Gewicht zugunsten von Erdogans Gegnern in die Waagschale werfen. Oberbürgermeisterkandidat der Republikanischen Volkspartei (CHP) soll hier der bisherige Bezirksbürgermeister von Istanbul-Sisli, Mustafa Sarigül, werden. Der erst vor wenigen Wochen in den Schoß der kemalistischen Partei zurückgekehrte CHP-Dissident Sarigül gibt sich offen für religiöse Wähler und sucht die Nähe der Gülen-Bewegung. Ein Signal der Versöhnung in Richtung der Kemalisten gab nun auch Gülen. Wenn es in seiner Macht stände, würde er »diese alten Männer« in die Freiheit entlassen, erklärte der Imam auf seiner Website herkul.org über die im Ergenekon-Verfahren verurteilten Militärs.

* Aus: junge Welt, Freitag, 22. November 2013


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