"Nationalistische Kraftmeierei"
Ufuk Uras: Türkische Parteien betreiben gefährlichen Populismus
Nach wie vor droht der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan
mit einem Militärschlag gegen Nord-irak, um die dortigen Lager der
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu beseitigen. Mit dem Abgeordneten Ufuk
Uras von der sozialistischen Partei der Freiheit und der Solidarität
(ÖDP), der als Unabhängiger bei den Parlamentswahlen im Juli ein
Direktmandat in Istanbul errang, sprach in Ankara Nico Sandfuchs über
die Auswirkungen, die eine militärische Intervention bereits jetzt auf
das gesellschaftliche Klima in der Türkei hat.
"Nationalistische Kraftmeierei"
ND: Anders als fast alle Ihrer Parlamentskollegen haben Sie kürzlich
gegen den Beschluss gestimmt, der Ankara zu einer Militäroperation in
Nordirak ermächtigt. Warum?
Ufuk Uras: Es ist ja nicht so, dass die Türkei noch nie eine
Militäroperation gegen die PKK in Nordirak geführt hätte. 24 Mal ist
dies bereits seit 1984 der Fall gewesen. Aber erfolgreich war keine
dieser Operationen. Das kann sie nicht sein, weil die Ursachen für den
Kampf der PKK hier in der Türkei liegen. Eine Lösung des Problems muss
demzufolge hier, innerhalb der türkischen Staatsgrenzen, gesucht werden.
Obwohl dies jeder weiß, überbieten die etablierten Parteien einander
darin, der Öffentlichkeit weiszumachen, dass ein Krieg in Nordirak das
so genannte Kurdenproblem lösen würde. Das ist absurd und gefährlich
zugleich.
Ihr Abstimmungsverhalten fand bei anderen Parteien und in der Presse
aber kein Verständnis.
Stimmt. Die 19 Abgeordneten, die es wie ich gewagt haben, aus gutem
Grunde gegen die Ermächtigung zu stimmen, wurden der Öffentlichkeit
geradezu als Zielscheibe präsentiert. Ihnen wurde unterstellt, sie
hätten sich gegen das Wohl des Landes verschworen. Daraufhin kam es zu
zahlreichen Angriffen von Ultranationalisten auf die Parteibüros der
prokurdischen Partei für eine friedliche Gesellschaft (DTP), deren
Abgeordnete ebenfalls gegen die Ermächtigung gestimmt haben. Leider sind
die etablierten Parteien in einen regelrechten Wettstreit miteinander
getreten, wenn es darum geht, sich mit nationalistischen Gesten und
Parolen zu übertrumpfen. Dabei nutzen sie den Umstand, dass es seit
Jahren eine weit verbreitete Paranoia gibt, der zufolge sich die ganze
Welt gegen die Türkei verschworen hat. Diese Paranoia ist überaus
empfänglich für die Art von nationalistischer Kraftmeierei, wie sie
jetzt betrieben wird.
So bildet sich immer mehr eine Situation heraus, die stark an
Deutschland im Jahre 1933 erinnert. Auch in der Türkei entsteht
allmählich ein Alltagsfaschismus, der das Resultat des nationalistischen
Populismus der großen Parteien ist. Abweichende Meinungen, die nicht mit
dem nationalistischen Diskurs im Gleichschritt gehen, werden immer
weniger toleriert – wie die Übergriffe auf die DTP und Linke zeigen.
Dies ist wohlgemerkt ein längerer Prozess, der nicht erst mit der
Debatte über einen Militärschlag begonnen hat. Aber durch die Haltung
der meisten Parteien wird dieser Prozess beschleunigt.
Warum ist das Kurdenproblem nach Jahren der relativen Ruhe wieder
aufgeflammt?
Es gibt auf beiden Seiten Falken, die an einer Zuspitzung des Problems
interessiert sind. Im Grunde genommen böte das jetzige Parlament, das
vor drei Monaten gewählt wurde, die ideale Grundlage für eine friedliche
Lösung. Denn erstmals ist darin eine kurdische Fraktion vertreten, die
ihren Willen zu einer umfassenden und friedlichen Lösung des Konflikts
bekundet hat. Das macht bestimmten Gruppierungen innerhalb und außerhalb
des Staates, aber auch auf kurdischer Seite, Angst.
Andererseits hat die Regierungspartei AKP seit dem Jahre 2004 keinen
einzigen tief greifenden Reformschritt mehr unternommen, um die
Demokratisierung der Türkei voranzutreiben. Im Gegenteil, in manchen
Bereichen wurden Fortschritte wieder zurückgenommen. Dass das
Kurdenproblem jetzt wieder mit aller Vehemenz auf die Tagesordnung
drängt, hat auch mit dieser Vernachlässigung des Reformprozesses zu tun.
Die Regierung muss jetzt dringend signalisieren, dass es ihr ernst ist
mit einer Lösung der bestehenden Probleme und Defizite. Eine
ausgezeichnete Gelegenheit hierfür bietet die neue Verfassung, die
gegenwärtig erarbeitet wird. Hier bestünde die Möglichkeit, ausdrücklich
festzuschreiben, dass die Türkei ein multikultureller Staat ist, dass
diese Vielfalt keine Bedrohung ist, sondern eine Bereicherung – und dass
jeder das Recht hat, seine kulturelle, sprachliche und religiöse
Identität frei auszuleben. Dies wäre eine wichtige Geste an den
kurdischen Bevölkerungsteil.
Wie bewerten Sie die Rolle der PKK im gegenwärtigen Konflikt?
Die PKK muss umgehend und bedingungslos die Waffen niederlegen und der
Gewalt abschwören. 23 Jahre bewaffneter Kampf und unzählige Tote haben
vor allem eines gelehrt: dass eine gewaltsame Lösung des Kurdenproblems
nicht möglich ist. Auch die jüngsten Angriffe der PKK haben gezeigt,
dass Aktionen dieser Art nur dazu geeignet sind, die gesellschaftliche
Atmosphäre zu vergiften und jeden Dialog unmöglich zu machen.
Hintergrund
Das werden am Freitag (2. Nov.) keine leichten Auftritte für Condoleezza Rice:
Erst will die US-Außenministerin in Ankara mit Ministerpräsident Erdogan
und Präsident Gül sprechen, dann in Istanbul an einem Irak-Treffen
teilnehmen. Denn die Beziehungen zwischen den USA und der Türkei sind
überaus angespannt. »Die Bush-Regierung steht jetzt genau dort, wo sie
nicht sein will: Mitten in einer Konfrontation zwischen einem von ihr
abhängigen Staat und einem wichtigen NATO-Verbündeten«, so die
»Washington Post«. Wobei die USA keine zusätzliche Destabilisierung in
Nordirak brauchen können und die ganze Region im Auge haben müssen;
nicht zuletzt, weil die etwa 30 Millionen Kurden auch in Syrien und in
Iran leben.
»Von einer Invasion im nördlichen Irak würde niemand profitieren - außer
den kurdischen Extremisten«, ist die »Washington Post« überzeugt. Das
meint auch das Pentagon. Militärisch werde man »absolut nichts« gegen
die PKK-Kämpfer tun, sagte jetzt Benjamin R. Mixon, der neue
US-Befehlshaber in der Region. General Carter Ham warnte sogar, Irak als
»souveräne Nation« nehme die Verteidigung des Staatsgebietes sehr ernst - was aber nicht bedeute, dass sich US-Einheiten im Ernstfall gegen den
Bündnispartner stellen würden. Schließlich braucht man die Türkei
dringend als Drehkreuz für den Kriegsnachschub in Irak.
Bisher blieb es bei Bushs Aufforderung an die irakische Seite,
PKK-Vorstöße energisch zu verhindern. Bagdad müsse die Büros der
Arbeiterpartei Kurdistans schnellstens schließen - was schon vor einem
Jahr zugesagt wurde. Kritiker wie Henri Barkey vom Institut für
Internationale Beziehungen der Lehigh-Universität beklagen, dass
Washington viele Gelegenheiten verstreichen ließ, »vorbeugend
diplomatisch tätig zu werden«. Zugleich wächst die Verärgerung in Ankara
über die USA, zumal eine umstrittene Resolution im Kongress zur
Anerkennung des türkischen »Völkermordes« an den Armeniern im Ersten
Weltkrieg für Aufregung sorgte. Wie umfangreich die nächste
Militäraktion der Türkei im Norden Iraks sein wird, zeichnet sich wohl
erst nach dem Treffen Bush-Erdogan am 5. November ab. Olaf Standke
* Aus: Neues Deutschland, 30. Oktober 2007
PKK-Gefangene wohlauf
Von Nick Brauns **
Die acht türkischen Kriegsgefangenen, die sich in den Händen der
kurdischen Guerilla befinden, erfreuen sich bester Gesundheit. Diesen
Eindruck vermittelt zumindest ein aktuelles Foto, das junge Welt am
Montag exklusiv aus dem Hauptquartier der aus der PKK (Arbeiterpartei
Kurdistan) hervorgegangenen »Kurdischen Volksverteidigungskräfte« (HPG)
übersandt wurde. Vier der Soldaten erklärten zudem gegenüber dem
kurdischen Satellitensender Roj TV, es gehe ihnen gut und ihre
Angehörigen sollten sich »keine Sorgen« um sie machen. An den Staat
richteten sie den Aufruf, man solle sich an einen Tisch setzen und
reden, weil Waffen keine Lösung darstellten.
Obwohl die acht Männer bereits am 20. Oktober bei Gefechten zwischen
Armee und Guerilla im türkisch-irakischen Grenzgebiet gefangengenommen
wurden, betrachtet die türkische Militärführung sie weiterhin als
»vermißt«. Bürgerliche Medien spekulieren inzwischen, die Soldaten seien
in den Nordirak gebracht worden. Dem widersprach nun ein Vertreter der
Guerilla: Die Gefangenen befänden sich in »Nordkurdistan«, also in den
kurdischen Gebieten der Türkei. Zur Forderung der im türkischen
Parlament vertretenen prokurdischen »Partei für eine Demokratische
Gesellschaft« (DTP) nach einer Freilassung der Soldaten erklärte der
führende PKK-Funktionär Murat Karayilan, dafür müßten die Angriffe der
türkischen Armee aufhören. »Von einer einfachen Freilassung kann nicht
die Rede sein, weil sich die Gefangenen im Kriegsgebiet befinden.«
Ebendort, in den grenznahen Guerillahochburgen im Südosten der Türkei,
setzte Ankaras Militär auch am Montag, dem türkischen Nationalfeiertag,
seinen Aufmarsch fort. Beobachter fürchten inzwischen, daß es noch vor
den für den 5. November in Washington geplanten Gesprächen zwischen
Premier Recep Tayyip Erdogan und US-Präsident George W. Bush zu einem
Angriffskrieg gegen Nordirak kommen könnte. Einem solchen Überfall
fiebern in diesen Tagen das politische Establishment und weite Teile der
Öffentlichkeit geradezu entgegen.
Einen Kontrapunkt setzte am Wochenende ein Kongreß der DTP in der
kurdischen Millionenmetropole Diyarbakir im Südosten der Türkei. Dort
trafen sich 500 Delegierte, um eine »Roadmap« für eine friedliche Lösung
des Kurdenkonfliktes zu erarbeiten. Kernstück des vieldiskutierten
Thesenpapiers ist eine tiefgreifende Änderung des politischen
Selbstverständnisses und eine Umgestaltung des Verwaltungsaufbaus der
Türkei. Auf diesem Weg sollen wesentliche Forderungen der kurdischen
Bevölkerung erfüllt werden, ohne daß die staatliche Einheit des Landes
gesprengt wird.
Staatlicherseits wurde die Konferenz offensichtlich mit Argusaugen
beobachtet. Im Eiltempo leitete die Staatsanwaltschaft Diyarbakir
Ermittlungen gegen die legendäre kurdische Politikerin Leyla Zana ein,
die zum Auftakt der Veranstaltung mehr politische und kulturelle Rechte
für die Kurden und eine Beendigung der Isolationshaft für den seit acht
Jahren isoliert gefangengehaltenen Ex-PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan
gefordert hatte. »Propaganda für eine terroristische Vereinigung« sei
dies, hieß es am Montag in einer Erklärung der Staatsanwaltschaft
Diyarbakir. Auch zum Thesenpapier wird es mit großer Wahrscheinlichkeit
ein juristisches Nachspiel geben.
** Aus: junge Welt, 30. Oktober 2007
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