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"Ich habe Menschen sterben sehen"

Hungerstreik inhaftierter Kurden in der Türkei überschattet Prozess gegen Journalisten

Von Dinah Riese, Istanbul *

In Silivri, 80 Kilometer westlich von Istanbul, wurde diese Woche der Prozess gegen 44 überwiegend kurdische Journalisten fortgesetzt.

38 der Angeklagten befinden sich seit Monaten in Haft. Ihnen wird vorgeworfen, Mitglieder einer terroristischen Organisation zu sein. Es handelt sich dabei um die KCK, den zivilen Arm der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Überschattet wird der Prozess vom Hungerstreik der Inhaftierten.

Die Prozessfortsetzung endete jedoch schon während der Überprüfung der Anwesenheit. Wie auch früher antworteten die Angeklagten dem Richter auf kurdisch. Manche verlangten auf kurdisch nach einem Übersetzer. Richter Ali Alçik überging diese Forderungen jedoch. Als der Angeklagte Kenan Kirkaya ankündigte, er wolle Stellung zum Hungerstreik nehmen, verweigerte Alçik ihm das Wort.

In der Türkei befinden sich zurzeit mehrere tausend inhaftierte Kurden im Hungerstreik. Sie fordern das Recht auf Ausbildung und Verteidigung vor Gericht in Kurdisch und das Ende der Isolationshaft des PKK-Führers Abdullah Öcalan. Viele weitere Inhaftierte schlossen sich in den vergangenen Wochen dem Streik aus Solidarität an. Nicht alle von ihnen hungern dauerhaft. Sie verweigern für etwa zehn Tage die Nahrungsaufnahme, dann pausieren sie einen Tag. Ihr Gesundheitszustand ist deswegen bisher nicht als kritisch einzustufen. Anders ist die Lage derjenigen, die seit über 60 Tagen im Hungerstreik sind.

Fethi Bozçali ist Vorstandsmitglied der türkischen Ärztekammer. Diese will eine Gruppe von Ärzten in die Gefängnisse schicken. Seit einem Monat versuchen sie, die Erlaubnis zu bekommen. Bisher ohne Erfolg. »Man schickt uns vom Justizministerium zum Oberstaatsanwalt zum Gefängnis und wieder zurück«, so Bozçali. Ob die Ärzte bald zu den Gefangenen dürfen, ist unklar. Er ist besorgt. 144 Hungerstreiktote habe es in der Türkei seit den 80ern gegeben. Er selbst war bei Streiks 1996 und 2000 als Arzt bei den Hungernden. »Ich habe Menschen in meinen Händen sterben sehen. Aber dieses Mal ist es anders. Dieses Mal lassen sie niemanden hinein.«

Die inhaftierten Journalisten in diesem Verfahren befinden sich alle im Hungerstreik, fünf von ihnen von Anfang an. Kirkaya bestand im Gerichtssaal darauf, sich zur Sache zu äußern. Als andere Angeklagte ihn in der Diskussion mit dem Richter unterstützten, drohte dieser, Kirkaya aus dem Saal bringen zu lassen. Daraufhin erhoben sich alle Angeklagten und erklärten, sie werden den Raum gemeinsam verlassen. Die Verhandlung wurde unterbrochen. Unter Applaus der Zuschauer verließen die Angeklagten den Raum.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 16. November 2012


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