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Der Taksim ist ein Epizentrum der Türkei

Die Soziologin und Aktivistin Begüm Özden Firat über Gentrifizierung in Istanbul


Begüm Özden Firat unterrichtet seit 2008 Soziologie sozialer Bewegungen, urbane Soziologie und Kultursoziologie an der Mimar Sinan Güzel Sanatlar Hochschule in Istanbul. Sie engagiert sich in Migrationsnetzwerken und Anti-Gentrifizierungsinitiativen. Über die Proteste rund um den Gezi-Park sprach Katja Herzberg mit ihr.

Wieso kam es im Streit um den Gezi-Park in Istanbul Ende Mai zu diesem explosionsartigen Protest?

Diese Handvoll Bäume im Gezi-Park verkörperte die gesamte Ablehnung der neoliberalen, autoritären und populistischen Politik der derzeitigen Regierung. Von der Finanzkrise 2001 an gab es auf mehreren Ebenen große Transformationen – im ökonomischen Bereich, im urbanen Raum und auch im sozialen Sektor.

Mit dem Wirtschaftswunder konnte die Regierung von Recep Tayyip Erdogan die Menschen nicht bei Laune halten?

Es ist immer wieder die Rede von diesem Wirtschaftswunder und davon, dass die Türkei eine modellhafte Demokratie für Länder des Nahen Ostens habe. Aber das ist nur die Oberfläche. Statt Demokratie haben wir ein autoritäres Regime. Statt Wirtschaftswunder erleben die Menschen prekäre Arbeitsbedingungen. Die finanziell Schwachen sind die Verlierer dieses Prozesses.

Waren deshalb auch so viele junge Menschen an den Protesten beteiligt?

Die heutige Jugend in der Türkei wird auf vielen Ebenen unterdrückt. Viele glauben, keine Zukunft zu haben. Auch wenn sie studieren, sie werden keinen Job oder nur einen mit schlechten Arbeitsbedingungen finden. Die jungen Menschen erleben die Transformation auf sozialer Ebene besonders intensiv – Internet-, Alkohol-, Demonstrationsverbot sowie die Gentrifizierung am Taksim-Platz, an dem sie sich aufhalten.

Wie bedeutsam ist das Phänomen Gentrifizierung in Istanbul?

Der Taksim-Platz ist das Herz Istanbuls und im weiteren Sinne auch ein Epizentrum der Türkei. Er hat soziale, kulturelle und politische Bedeutung. Was städtebaulich am Taksim passiert, wird von den Behörden als Umwandlung in eine Fußgängerzone beschrieben. In Wahrheit geht es aber um die Privatisierung des Platzes, eine neoliberale Einhegung. Es geht nicht nur darum, diesen Bereich durch den Bau von Einkaufszentren aufzuwerten, sondern auch darum ihn zu kontrollieren und Menschen auszuschließen.

Dieser Prozess macht aber nicht am Taksim-Platz Halt, oder?

Nein, der Kampf um den Taksim-Platz ist für uns ein symbolischer. Der ganze Bezirk Beyoglu soll zu einem Disneyland für reiche Touristen gemacht werden. Dazu gehört auch Tarlabasi, ein Viertel mit vielen Roma, anderen Migranten und Sexarbeiterinnen. Wenn du kein Geld hast, bist du dort nicht mehr erwünscht.

Wie läuft der Verdrängungsprozess konkret ab?

Gewöhnlich werden den Menschen, die eine Wohnung in der Innenstadt besitzen, Häuser oder Wohnungen in der Peripherie zum Kauf angeboten. Da diese Neubauten teuer sind, müssen sich die meisten Menschen verschulden. Mieter haben ohnehin keine Chance. Ihnen wird einfach gekündigt. So wird das Zentrum von den Marginalisierten und finanziell Schwächeren gesäubert.

Wann begann dieser Prozess?

Der Stadtteil Sulukule auf der historischen Halbinsel, wo viele Roma wohnten, war das erste Gentrifizierungsprojekt der Regierung. Es gab mit Beginn der Umstrukturierung 2005 den Startschuss, auch für den Widerstand.

Findet Gentrifizierung auch in anderen Städten der Türkei statt?

Ja, zum Beispiel in Van im Osten des Landes, wo sich 2011 ein schweres Erdbeben ereignete. Es wurde zum Anlass genommen, die ganze Stadt zu einem Modell für andere Orte zu machen. Das Phänomen der Gentrifizierung finden wir heute in der gesamten Türkei.

Wie ist die aktuelle Situation der Protestbewegung in Istanbul? Werden die Massenproteste im Herbst wieder aufflammen?

Im Moment ist nicht viel zu sehen, aber die Bewegung macht weiter. Es gibt ab und zu kleine Solidaritätsdemonstrationen für Verletzte. Daneben gehen die Foren in den einzelnen Straßenzügen weiter. Sie stellen eine neue Ebene in der Bewegung dar. Dort wird diskutiert, wie sich Nachbarschaften selbst versorgen können, mehr Grünflächen geschaffen werden oder wie gegen ein bestimmtes Gentrifizierungsprojekt in der jeweiligen Gegend vorgegangen werden kann. Auch die nächsten Wahlen und wie sich die Gruppen dabei verhalten sollen, sind Thema. Was alle Foren verbindet, ist, dass dort mit direkter Demokratie experimentiert wird. Die Menschen wollen selbstbestimmt leben. Der Rücktritt Erdogans steht im Gegensatz zum Beginn der Proteste nicht mehr an erster Stelle.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 21. August 2013


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