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"Der KCK-Prozeß ist eine Terrormaßnahme"

Verhaftungswellen in der Türkei: Eine politische Lösung der kurdischen Frage ist vorläufig in die Ferne gerückt. Ein Gespräch mit Yildirim Türker


Yildirim Türker ist Szenarist, Übersetzer und Journalist. Seit 16 Jahren schreibt er Kommentare für die liberale türkische Tageszeitung Radikal.

Zur Zeit folgt in der Türkei eine Verhaftungswelle auf die andere. Am 28.Oktober wurden unter anderem der Verleger Ragip Zarakolu und die Professorin Büsra Ersanli mit dem Vorwurf der Zugehörigkeit zur KCK, der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans, inhaftiert. Vor wenigen Tagen 100 weitere Personen, darunter viele Anwälte, dann in Izmir 33 weitere. Was ist Sinn und Zweck dieser Maßnahmen?

Der KCK-Prozeß ist eine Terrormaßnahme der AKP-Regierung, die zeigt, daß die 2009 begonnene Öffnungspolitik gegenüber den Kurden nichts als ein politisches Manöver war. Unterstützt von den USA, hat sich die Regierung zu einer radikalen Lösung des kurdischen Problems entschlossen. Sie versucht, kurdischer Politik jeden Raum zu nehmen. Sämtliche Funktionäre der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), Intellektuelle und Journalisten werden mit dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der illegalen KCK in Haft genommen. Jeder Bürger, dem die Kurdenpolitik der Regierung nicht gefällt, kann als KCK-Mitglied inhaftiert werden. Damit, daß sogar Anwälte gefangengenommen werden, erklärt der Staat faktisch auch die lang andauernden Verhandlungen mit dem eingekerkerten Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans, Abdullah Öcalan, für gescheitert. Es wird klar, daß die Regierung nur die Guerilla als Gegenüber ernst nimmt.

Während das Militär im Irak gegen die Arbeiterpartei Kurdistans, die PKK vorging, haben Ende Oktober fünf Presseagenturen eine Erklärung zur Selbstzensur verabschiedet. Wie ist die Lage auf dem Medienmarkt?

Die Medien tun sich seit längerem schwer, von der vorgegebenen Linie abzuweichen. Viele sind faktisch in Händen der Regierung; sie wurden gemäß der Kriegsstrategie ausgerichtet. Es gab ernste Warnungen an Journalisten. Sie sollten sich einer oppositionellen Wortwahl enthalten. Der Ministerpräsident hat dies offen zur Sprache gebracht. Es gab nie wirklich Pressefreiheit in der Türkei, aber heute sind wir davon besonders weit entfernt.

Etliche Akademiker haben angekündigt, wie Büsra Ersanli in der Politischen Akademie der BDP zu unterrichten. Wie beurteilen Sie die Aussichten solcher Initiativen?

Es sind notwendige Schritte, um Öffentlichkeit zu schaffen. Die Bevölkerung fragt aus Angst, der Unterstützung des Terrorismus bezichtigt zu werden, nicht weiter nach diesen Verhaftungen. Um gegen diese Angst anzugehen, muß man leider den Helden spielen. Oder sagen wir eher, die natürlichste Haltung erscheint in solchen Zeiten als Heldentum.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der im Westen als Demokratisierer angesehen wird, hat sich nun auch als Vergangenheitsbewältiger hervorgetan und für die Massaker an Zehntausenden alevitisch-kurdischen Zivilisten in der Provinz Dersim 1937 und 1938 entschuldigt. Wie kommt das an?

Daß ein Ministerpräsident die Massaker von Dersim eingesteht, ist für die Türkei eine bedeutende Entwicklung. Das müssen wir einräumen. Doch es drängt sich leider auf, daß dieser Vorstoß ein Manöver gegen die Hauptoppositionspartei war. Der da um Entschuldigung bittet, instrumentalisiert die Feindseligkeit gegen Armenier in der Gesellschaft und setzt kurdische Politiker als Anhänger des Zarathustra-Kults in religiöser Hinsicht herab. Angesichts dieser Sprache, die Pogromen den Weg bereitet, verliert die Entschuldigung für Dersim ihre Glaubwürdigkeit. Was die Sicht westlicher Staaten angeht – die Ereignisse im Nahen Osten lassen die Regierungen dieser Länder vor den antidemokratischen Entwicklungen in der Türkei die Augen verschließen. Die AKP ist begierig darauf, die Rolle der Führungsmacht in der Region zu übernehmen, sie erteilt dem syrischen Präsidenten Assad Lektionen in Demokratie und erhöht derweil munter den Druck auf die eigene Opposition.

Seit der Parlamentswahl im Sommer steht in der Türkei die Verabschiedung einer neuen Verfassung an, die von verschiedenen gesellschaftlichen Kräften erarbeitet werden soll.

Ich glaube nicht, daß die AKP sich jenseits ihrer eigenen Prioritäten auch nur um die Änderung eines einzigen Artikels den Kopf zerbricht. Es wird noch schlimmere Tage geben. Kurden und Demokraten in der Türkei werden noch einiges zu ertragen haben.

Interview: Corinna Trogisch

* Aus: junge Welt, 7. Dezember 2011


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