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Gasgranaten auf Kinder

Türkische Polizei unterdrückt Proteste gegen Bildungsreform. Regierung will Kurdisch als Wahlfach einführen. Buchstaben X, Q und W bleiben verboten

Von Nick Brauns, Sirnak *

Mit Gasgranaten und Wasserwerfern löste die türkische Polizei am Montag in mehreren kurdischen Städten Demonstrationen für das Recht auf muttersprachlichen Unterricht auf. Offiziell kann die kurdische Sprache in ihren beiden Hauptdialekten Curmanci und Zazaki im jetzt begonnenen neuen Schuljahr als Wahlfach ab der Mittelstufe belegt werden. Doch während Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan von der islamisch-konservativen AK-Partei von einem »historischen Schritt« sprach, ist es für viele Kurden schlicht eine Beleidigung, ihre Muttersprache als Wahlfach erlernen zu sollen.

»Der Ministerpräsident und seine Minister können gerne Kurdisch als Wahlfach belegen. Das würde uns freuen«, erklärte die Vorsitzende der im Parlament vertretenen Partei für Frieden und Demokratie BDP, Gültan Kisanak. »Aber die Kurden wollen ihre Sprache.« Die BDP ruft nun zum Boykott des Kurdischunterrichts auf. Als Augenwischerei bezeichnet auch eine Mitarbeiterin des kurdischen Sprachvereins Kurdi-Der in Sirnak die Reform. Der Staat würde sich das Recht zur Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit herausnehmen, doch kurdischen Vereinigungen ist dies immer noch nicht gestattet. Erst vor wenigen Wochen ordnete ein Gericht in Diyarbakir die Umbenennung zahlreicher Parkanlagen und des nach dem kurdischen Nationaldichter Cegerxwin benannten Kulturzentrums an, da deren Namen die im kurdischen, nicht aber im türkischen Alphabet vorkommenden Buchstaben X, Q und W enthielten.

In Sirnak schoß die mit Panzerwagen vor der BDP-Zentrale aufgefahrene Polizei mit Gasgranaten auf einen Demonstrationszug von mehreren hundert Personen, darunter Dutzenden Grundschülern, die Plakate mit den verbotenen Buchstaben X, Q und W hochhielten. Auch ein Wasserwerfer kam zum Einsatz. Die Polizei nahm zwei Mitglieder einer im Auftrag der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke (Die Linke) zur Menschenrechtssituation in der Türkei recherchierenden Delegation vorübergehend fest und löschte auf einer Digitalkamera Aufnahmen des Polizeieinsatzes gegen die Schüler. Die Kinder seien mit Geld bestochen worden, um mit Steinen auf die Polizisten zu werfen, behauptete ein Staatsschutzbeamter gegenüber junge Welt.

Bereits am Wochenende war es in Ankara zu Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen, als Gewerkschafter und Mitglieder sozialistischer Gruppen gegen die ebenfalls am Montag in Kraft getretene Bildungsreform 4+4+4 demonstrierten. Auch in der zweitgrößten südostanatolischen Stadt Diyarbakir wurden 14 Gewerkschafter auf einer Kundgebung festgenommen. Mit dieser gleichermaßen neoliberalen wie religiös motivierten Reform werden die islamischen Imam-Hatip-Schulen den laizistischen Gymnasien gleichgestellt und können bereits ab der fünften statt wie bisher ab der achten Klasse besucht werden. Die letzten vier Schuljahre können auch in Fernunterricht absolviert werden. Damit würden die Verheiratung minderjähriger Mädchen sowie die Kinderarbeit gefördert, befürchten Kritiker der Reform, zu denen die Bildungsgewerkschaft KESK und die kemalistische Oppositionspartei CHP gehören.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 18. September 2012


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