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Türken im argen Konflikt zwischen Atatürk und Allah

Parlament bestätigt Aufhebung des Kopftuchverbots an Universitäten

Von Jan Keetman, Istanbul *

Mit einer Zweidrittelmehrheit hat sich das türkische Parlament für zwei Verfassungsänderungen ausgesprochen, die das Tragen von Kopftüchern an Universitäten ermöglichen. Es besteht kein Zweifel, dass heute in einer zweiten Lesung die Aufhebung des Verbots bestätigt wird.

Seit der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan, unterstützt vom Führer der ultranationalistischen Opposition, Devlet Bahceli, daran gegangen ist, im Eilgang das Kopftuch an Universitäten zu erlauben, steht das Land Kopf.

Am vergangenen Wochenende haben mehr als 120 000 Menschen am Grabmal Atatürks symbolisch einen Kranz mit der Aufschrift »Laizistische Republik« niedergelegt, als gelte es , diesen Staat nun zu Grabe zu tragen und ihn symbolisch neben seinen Gründer zu betten. Alte Freundschaften zerbrechen, wie die zwischen Devlet Bahcelis Partei der Nationalen Bewegung (MHP) und den Veteranenverbänden. Schläger der MHP, sonst eher gegen Linke oder Kurden aktiv, traten auf eine Gruppe von Vertretern der Veteranenverbände ein und zerrissen einen schwarzen Kranz, den diese in der Nähe der Parteizentrale der MHP niederlegen wollten.

Die linksliberale Zeitung »Radikal« machte eine Anleihe bei dem irakischen Autoren Kanan Makiya und schrieb groß über ihre Titelseite »Republik der Angst«, darunter setzte sie das Bild von Edvard Munch »Der Schrei«. Wenn dies als ein Aufruf gedacht war, angesichts der geplanten Freigabe des Kopftuches an Universitäten nicht in Panik zu verfallen, so hat dies selbst in der eigenen Zeitung nur wenig gefruchtet, denn auch in »Radikal« wird die Debatte mit jedem Tag ein Stück aufgeregter.

Frauenverbände haben kritisiert, dass wieder einmal nur Männer über die Kleidung der Frauen entscheiden. Das ist zwar nicht falsch, aber wenn man die Diskussionen vor der Universität, in das Cafés und Familien verfolgt, lernt man rasch, dass die Fronten nicht zwischen den Geschlechtern verlaufen. Da ist etwa die wütende Hausfrau aus Istanbul, die erklärt, der Wunsch, sich zu verschleiern, sei doch etwas, was »von innen« käme. Mit einem politischen Symbol habe das nichts zu tun. »Das ist Religion«, sagt sie und hat doch selbst vier Jahre lang das Tuch vor dem Betreten der Universität abgelegt.

Anderen geht die geplante neue Regelung nicht weit genug, weil genau vorgeschrieben wird, dass das Tuch unter dem Kinn zusammengebunden werden soll, wie es früher auf dem Land bei den Bäuerinnen üblich war.

Eine Geografiestudentin findet das komisch, so wie es früher komisch gewesen sei, wenn sich Studentinnen zur Teilnahme zur Prüfung eine Perücke über das Tuch aufgesetzt hatten, was ein erlaubter Kompromiss war. »Unser Stolz wird wieder verletzt«, findet die junge Frau.

Bedroht fühlt sich dagegen eine Mathematikstudentin. Schon jetzt wird sie unruhig, wenn alle um sie ein Kopftuch tragen. »Schauen jetzt alle auf mich?«, fragt sie sich. Angst hat auch eine junge Bankangestellte. »Ich glaube, wir werden uns wie in Iran verändern«, meint sie. Eine Zeichenlehrerin prophezeit, es werde kommen wie in den siebziger Jahren, also in der Zeit vor dem Kopftuchverbot, als an vielen kleineren Universitäten Frauen ohne verhülltes Haar von ihren muslimischen Mitstudenten nicht mehr gelitten wurden. Die Studentin Ayse Bilgic reagiert, obwohl sie selbst ebenfalls ohne Tuch ist, viel gelassener. Freundinnen von ihr könnten wegen des Bannes nicht studieren. Das sieht sie nicht ein und argumentiert dann wie der Leiter der Religionsbehörde: »Schließlich sind wir ein muslimisches Land.«

Wie hitzig die Debatte auch sein mag, beeindruckt hat sie den Ministerpräsidenten Erdogan nicht. Er will vollendete Tatsachen schaffen. Wenn heute das Parlament die Verfassungsänderungen annimmt und Präsident Abdullah Gül, wie zu erwarten ist, sofort unterschreibt, können zum Beginn des Sommersemesters am Montag Tausende Frauen mit Kopftuch in die Universitäten strömen.

Wird dann das Verfassungsgericht den Mut haben, die Änderungen in ein paar Monaten wieder aufzuheben? Dies ist nicht auszuschließen. Steht dann der Türkei die tiefste mögliche Zerreißprobe bevor, ein Loyalitätskonflikt zwischen Atatürk und Allah?

* Aus: Neues Deutschland, 9. Februar 2008


Fauler Kompromiß in Ankara

Türkei: Aufhebung des Kopftuchverbotes an den Universitäten steht bevor

Von Nico Sandfuchs, Ankara **


Die Verfassungsänderung zur Aufhebung des Kopftuchverbotes an türkischen Universitäten soll an diesem Sonnabend endgültig vom türkischen Parlament abgesegnet werden. Neben der gemäßigt-islamischen Regierungspartei AKP und der ultranationalistischen MHP hat auch die prokurdische DTP inzwischen signalisiert, für das Änderungspaket zu votieren.

Mit Ausnahme der Kemalisten, die in den vergangenen Tagen erwartungsgemäß Sturm gegen die Freigabe der religiösen Kopfbedeckung liefen, zeichnet sich eine breite Unterstützung für die Grundgesetzänderung ab.

Unbehagen ist dennoch weit verbreitet. Denn glaubt man der Regierung, so war es allein das Kopftuchverbot, das Frauen bislang vom Studium abhielt. Eine breitangelegte Studie, die die linksliberale Stiftung TESEV jetzt vorlegte, spricht hingegen eine andere Sprache. Lediglich ein Prozent der türkischen Frauen konnten demnach ein Studium deshalb nicht aufnehmen, weil sie ein Kopftuch tragen. Jede dritte Frau hingegen verpaßte den Übergang vom Gymnasium an die Hochschule, weil entweder das nötige Geld fehlte oder die Familie eine weitere Ausbildung untersagte.

Es sind also soziale Gründe und konservativer Muff, die junge Frauen vom Studium abhalten – und nur selten das Kopftuch. Daß die Regierung aber soziale und gesellschaftliche Faktoren abstreitet und allein das Kopftuch in den Mittelpunkt rückt, erhärtet den Verdacht, daß der jetzige Schritt vor allem auf ihre religiöse Wählerschaft gemünzt ist. Die Frage jedoch, ob junge Frauen studieren oder nicht, ist der Regierung eigentlich herzlich egal.

Skeptisch stimmt auch, daß Erdogan die Kopftuchfreigabe mit großem Tamtam als »Jahrhundertreform für mehr Freiheit« verkauft. »Die Reform für mehr Freiheit in der Kopftuchfrage geht aber letztlich auf Kosten der Reformen für mehr Freiheit in anderen Gesellschaftsbereichen«, kritisiert der Abgeordnete Uras. Denn um die notwendige Mithilfe der faschistischen MHP bei der jetzigen Grundgesetzänderung zu erhalten, waren umfassende Zugeständnisse notwendig. Kaum zufällig liegen die überfällige Reform des berüchtigten »Türkentum-Paragraphen« 301 und das Großprojekt, mit dem eine neue und freiheitlichere Verfassung aus dem Boden gestampft werden sollte, jetzt wieder auf Eis – weil beide Anliegen von der MHP vehement abgelehnt werden.

Einen bitteren Beigeschmack hat die »Kopftuchreform« aber nicht zuletzt deshalb, weil sie allzu offensichtlich auch auf Kosten der Kurden durchgeboxt worden ist. Vor nicht einmal einem Jahr hatten die türkischen Generäle noch mit einem Putsch gedroht, sollte Erdogan die Islamisierung des Landes weiter vorantreiben. Doch auf einmal ist kein Einspruch mehr zu hören. Der Grund dafür ist ein Deal zwischen Regierung und Streitkräften, ließ die DTP-Abgeordnete Aysel Tugluk in einer Parlamentsrede kürzlich durchblicken. Erdogan hat den Militärs freie Hand in der Kurdenfrage gegeben – und erhielt im Gegenzug freie Hand in der Kopftuchfrage.

* Aus: junge Welt, 9. Februar 2008


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