Öcalan fordert keinen eigenen Staat mehr
Der inhaftierte PKK-Führer hat seine Ansichten über die Zukunft Türkisch-Kurdistans aufgeschrieben
Von Jan Keetman, Istanbul *
Der inhaftierte Chef der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, hat weitgehende
Autonomierechte für die Kurden in der Türkei gefordert. Im Rahmen einer Lösung des
Kurdenkonflikts müsse die Volksgruppe das Recht auf politische und kulturelle Selbstverwaltung
erhalten, sagte Öcalan bei einem Besuch seiner Anwälte auf der Gefängnisinsel Imrali bei Istanbul.
Zum 15. August wollte Abdullah Öcalan, der gefangene Führer der PKK, eigentlich einen Plan zur
Lösung der Kurdenfrage in der Türkei fertig haben und durch seine Anwälte verkünden. Doch der zu
lebenslanger Haft auf der Gefängnisinsel Imrali verurteilte PKK-Führer ist nicht fertig geworden.
Seine Ideen und Argumente hat er in ein Heft geschrieben, das am Wochenende voll war. Doch
Öcalan denkt, dass er noch ein zweites Heft brauchen wird und damit erst am Mittwoch nächster
Woche fertig sein wird.
Etwas vom Inhalt des ersten Heftes durften die Anwälte über eine als PKK-nah geltende
Nachrichtenagentur bereits bekanntgeben. Wie bereits in früheren Äußerungen verzichtet Öcalan
auf die Forderungen nach einem eigenen Staat für die Kurden. Auch ein föderatives System, wie es
die USA dem irakischen Kurdenführer Masud Barzani versprochen hätten, würde er, Öcalan,
ablehnen.
Ansonsten bleiben seine Ausführungen etwas schwammig. Eine Forderung ist jedenfalls
Organisationsfreiheit für die Kurden. In der Türkei ist das Gründen von Vereinen oder Parteien, die
sich auf eine andere ethnische Zugehörigkeit als die türkische berufen, verboten.
Nach Öcalan sollten Kurden nun ihre eigenen Sportvereine gründen können, eine eigene Ausbildung
und eigene religiöse Organisationen haben. Überraschend ist, dass Öcalan in dem kurzen Text
gleich zweimal von der eigenen »Selbstverteidigung« der Kurden spricht. Man kommt kaum umhin,
dies als eine Art eigener Streitkräfte zu verstehen. Doch Öcalan ist ein Meister darin, einmal
Gesagtes, irgendwann einmal in einen anderen Kontext zu stellen und völlig umzudeuten.
Öcalan ist sich immerhin bewusst, dass er nicht allein die Strategie in der Kurdenfrage ausarbeiten
kann. Die Kurden sollten nicht meinen, sie könnten eine Lösung bei ihm bestellen, sondern müssten
sich auch selbst bemühen, meint Öcalan. »Diese Sache werden wir zu Wege bringen und
durchführen«, heißt es in dem Text, wobei wieder einmal unklar bleibt, wie dies konkret zu verstehen
ist.
Öcalan ist auch zuversichtlich. Wenn die regierende AK-Partei keine tiefgreifenden Schritte in der
Kurdenfrage mache, so meint der gefangene PKK-Chef, werde sie sich »auflösen und
verschwinden«.
In Öcalans Denken gibt es offenbar andere Mächte, die dauerhafter und wichtiger sind als
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogans AK-Partei.
Öcalan denkt an die USA, aber er versäumt es auch nicht, seiner Erklärung ein paar freundliche
Worte über Fethullah Gülen hinzuzufügen. Gülen ist der informelle Führer einer religiösen
Bewegung in der Türkei. Viele Leute glauben, dass Gülen über großen Einfluss in der Türkei verfügt.
Die Bedeutung, die dem pensionierten Prediger von der Blauen Moschee in Istanbul zugeschrieben
wird, ist wahrscheinlich nur leicht übertrieben. Noch vor ein paar Jahren hätte Öcalan über den Kreis
seiner Anhänger hinaus wohl kaum jemand in der Türkei zugehört. Doch es ist allgemein ein
Umdenken in der Kurdenfrage zu beobachten. Viele sind der Meinung, dass nun etwas geschehen
sollte. Premier Tayyip Erdogan war in den letzten Tagen sehr aktiv im Ankündigen, dass es eine
Lösung geben werde, ja dass es spät wäre, wenn man damit bis Jahresende warten würde.
Doch weder er noch der von Erdogan mit der Sondierung der Frage beauftragte Innenminister Besir
Atalay haben bisher zu erkennen gegeben, in welche Richtung es gehen könnte. Es ist so gut wie
ausgeschlossen, dass die Regierung dem Häftling Öcalan direkt antwortet.
Doch es häufen sich die Stimmen, die nicht mehr von einem ausschließlichen Terrorproblem der
Türkei ausgehen. Die Realität wagt Taha Akyol in der Zeitung »Milliyet« vorsichtig auszusprechen,
indem er meint, die PKK habe – »sei es aus Liebe, sei es aus Furcht« – Unterstützung bei einem
Teil des Volkes.
* Aus: Neues Deutschland, 18. August 2009
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