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Damit lässt sich kein Staat machen

Von prokurdischen BürgermeisterInnen regierte Gemeinden leben oft von der Hand in den Mund. Vier Gespräche und eine Warnung

Von Andreas Fagetti *

Politik gegen die kurdische Bewegung macht der zentralistische türkische Staat auch über die Verteilung der öffentlichen Gelder. Osman Baydemir, der Bürgermeister von Diyarbakir, sagt, was viele kurdische Gemeindeoberhäupter sagen: Von prokurdischen BürgermeisterInnen regierte Städte und Gemeinden erhielten weniger öffentliche Mittel als andere.

Die Gemeinden und Städte des Südostens haben sich daher zusammengetan, um sich gemeinsam für eine Verbesserung des wirtschaftlich unterentwickelten Landesteils einzusetzen. Osman Baydemir, Bürgermeister der grössten Stadt im Kurdengebiet, ist eine treibende Kraft in dieser Städte- und Gemeindevereinigung. Und seine pragmatische Politik ist ein Beispiel dafür, wie sich trotz allem etwas erreichen lässt.

Der Bürgermeister hat in seinem beschränkten Einflussbereich - Schlüsselressorts wie die Sicherheit und Finanzen kontrolliert der Provinzgouverneur - dafür gesorgt, dass in seiner Stadt der öffentliche Raum in Ordnung gehalten wird. Er hat Pärke und Spielplätze anlegen lassen, die gut gepflegt und daher von den Bewohner­Innen der Stadt auch geschätzt werden. Er hat auf dem Gelände eines aufgelassenen Fabrikareals mit EU-Geldern ein Sozialzentrum einrichten lassen, in dem die Armen der Stadt eine Ausbildung machen, die jungen Menschen Sport betreiben und Bildungshungrige Kurse und eine grosse Bibliothek nutzen können.

Vermint und verarmt

Ausserhalb der grössten Stadt des Südostens sind die Perspektiven noch trister. Im Foyer des Hotels Kristal im Zentrum Diyarbakirs treffen wir Mehmet Kanar. Er ist Bürgermeister von Cele, einem Ort direkt an der irakischen Grenze. In der Gemeinde leben 8000 Menschen, die Mehrheit Inlandflüchtlinge. Die ganze Umgebung sei vermint. Das wirtschaftliche Leben liegt am Boden. Manche züchten Schafe und Ziegen, andere bauen Reis an oder betreiben Handel, und etwas Arbeit fällt im Baugewerbe an. Aber an einem Ort, in dem auf einen kurdischen Bewohner etwa vier Soldaten kommen, sind die Spielräume in jeder Hinsicht eng. Der Bürgermeister kann nicht viel bewegen, zu mickrig ist das Budget seiner Gemeinde. Es beträgt etwa 110000 türkische Lira, das entspricht einem Betrag von rund 80000 Franken. Gut die Hälfte des Budgets geht für die Löhne der 45 Gemeindeangestellten drauf. Damit lässt sich selbst im mausarmen äussersten Südosten kein Staat machen. Der kurdische Bürgermeis­ter hat wie so viele seiner KollegInnen ein Gerichtsverfahren wegen prokurdischer Äusserungen am Hals. Auch er kennt die Gefängnisse der Türkei von innen. «Uns hilft niemand», sagt Kanar, «Europa nicht und auch die USA nicht.» Wenn es so weitergehe, wachse die Wut, und es komme wieder zum Bürgerkrieg, warnt er.

Fadit Bedirhanoglu, Nachfahre kurdischer Stammesfürsten, sitzt hinter einem imposanten Pult in der Gemeindeverwaltung von Hakkari. Er ist erst seit sechs Monaten im Amt, aber er wirkt so resigniert, als amte er hier schon seit Jahrzehnten. Die Stadt hat einen Schuldenberg von 42 Millionen türkischen Lira angehäuft (zirka 31,7 Millionen Franken), denn aus Ankara fliesse das Geld spärlich. Sechzig Prozent der Haushalte sind nicht an die Kanalisation angeschlossen. Aussicht auf Besserung gibt es nicht. «Wir brauchen die Hilfe des Auslandes», sagt Fadit Bedirhanoglu. Eine Partnerschaft mit einer europäischen Stadt - davon träumt der Bürgermeister.

In der achtzig Kilometer von der irakischen Grenze gelegenen Bergstadt mit ihren etwa 75000 EinwohnerInnen kommt nur auf einen grünen Zweig, wer beim Staat angestellt ist - im Spital, in der Gemeinde oder in der Schule. Der grösste private Arbeitgeber ist eine Kelimweberei, die einen Geschäftsführer, einen Färbereimeister und etwa zwanzig Weberinnen beschäftigt - und das in einer Stadt von der Grösse St.Gallens.

Initiative aus dem Quartier

Die Landwirtschaft in der Umgebung ist wegen der Vertreibungspolitik des türkischen Staates schwer geschädigt. Milch kann sich in diesem fruchtbaren Landstrich kaum einer leisten, moderne Vertriebssysteme wie etwa Kühlwagen fehlen ohnehin. Wie schlecht es um die Gemeindefinanzen steht, zeigt ein anderes Beispiel: Die Stadt, die für den Unterhalt und den Bau der Quartierstrassen zuständig ist, kann sie nicht sanieren. Das Geld fehlt. Jetzt haben sich die QuartierbewohnerInnen zusammengetan. Mit dem zusammengelegten Geld kaufen sie Pflastersteine und Kies, die Stadt stellt die Strassenarbeiter und die Maschinen. Auf diese Weise konnten bisher fünf Quartierstrassen saniert werden.

Einer der Vorgänger des Bürgermeis­ters klagte vor fünf Jahren bereits über den wachsenden Schuldenberg. Metin Tekce sprach damals von 26 Millionen türkischen Lira Schulden. Wegen des defekten Trinkwassersystems nähmen die Typhusfälle besonders unter Kindern wieder zu, klagte er. Metin Tekce ist ein Parteigänger der prokurdischen Partei BDP. Das wurde ihm zum Verhängnis. Dreissig Polizisten prügelten ihn am Newroz-Fest vor zwei Jahren beinahe zum Krüppel. Er und seine Familie mussten flüchten. Heute lebt der kurdische Politiker als Asylbewerber im Kanton St.Gallen.

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 6. Mai 2010


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