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Angst vor Giftgas

Iran und Türkei setzen Offensive gegen kurdische PKK-Guerilla fort

Von Nick Brauns *

Angesichts der koordinierten türkischen und iranischen Angriffe im kurdischen Nord­irak werde die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ihre Guerillakräfte mit denen der im Iran aktiven Partei für ein Freies Leben Kurdistans (PJAK) vereinigen, kündigte PKK-Sprecher Dozdar Hammo an. Seit Ende des Fastenmonats Ramadan haben die iranischen Streitkräfte ihre im Juli begonnene Offensive im Grenzgebiet zum Irak wieder aufgenommen. Nach heftigen Kämpfen meldeten die kurdische Guerilla und die iranische Armee in den letzten Tagen jeweils Dutzende Tote auf der Gegenseite, ohne eigene Verluste zu bestätigen. Unterstützt wird die Offensive Irans von Angriffen der türkischen Luftwaffe. Der Sprecher der US-Streitkräfte im Irak, Generalmajor Jeffrey Buchanan, bestätigte unterdessen gegenüber dem US-Propagandasender »Radio Free Iraq«, daß seine Truppen die Bekämpfung der PKK eng mit der Türkei und dem Irak koordinieren.

Trotz formaler Proteste gegen die Verletzung ihrer territorialen Integrität durch die iranisch-türkischen Angriffe scheint auch die kurdische Regionalregierung im Nordirak Teil der gegen PKK und PJAK gerichteten Allianz zu sein. Eine Delegation unter Leitung des kurdischen Innenministers Karim Sinjari und des stellvertretenden Vorsitzenden der regierenden Demokratischen Partei Kurdistans, Nechirvan Barzani, hatte sich in der vergangenen Woche mit den Regierungen in Teheran und Ankara getroffen. Anschließend rief Barzani PKK und PJAK zur Kapitulation auf.

»Die PKK ist in der Falle. Dieser Schlag könnte das Ende ihrer 27jährigen Existenz bedeuten«, mutmaßte der Kolumnist der regierungsnahen türkischen Tageszeitung Todays Zaman, Mumtazer Türköne. Zuvor hatten Kommentatoren bereits analog zum Massaker der Armee Sri Lankas an Zehntausenden tamilischen Guerillakämpfern und Zivilisten vor zwei Jahren eine »tamilische Lösung« der kurdischen Frage ins Gespräch gebracht. Sobald die Zivilisten aus dem von der Guerilla kontrollierten Gebiet vertrieben seien, könnte ein Angriff mit chemischen Waffen auf die kurdischen Stellungen erfolgen, warnen daher PKK-Funktionäre. In einer jüngst veröffentlichten Studie hatte der türkische Menschenrechtsverein IHD nachgewiesen, daß die türkische Armee seit 1994 in 39 Fällen solche international geächteten Waffen einsetzt hatte, durch die 437 Guerillas getötet wurden. Der neue türkische Generalstabschef Nejdet Özel steht im Verdacht, im Jahr 1999 persönlich einen Giftgaseinsatz angeordnet zu haben.

Für den Westen hat Kurdistan als Transitraum für bestehende und geplante Öl- und Gasleitungen wie die projektierte Nabucco-Pipeline große energiepolitische Bedeutung. Mit der Ankündigung, in der südostanatolischen Provinz Diyarbakir eine Komponente des NATO-Radarsystems zur Raketenabwehr zu errichten, wächst nun auch erneut die militärstrategische Rolle der Region.

In Ankara versammelten sich am Sonntag über 1000 Delegierte der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) zu ihrem zweiten Parteikongreß unter dem Motto »Autonomes Kurdistan – Demokratische Türkei«. Der wiedergewählte Vorsitzende Selahattin Demirtas kündigte dabei eine Fortsetzung des Parlamentsboykotts an, solange keine »Atmosphäre für eine demokratische Politik« geschaffen werde. Die aus den Wahlen im Juni hervorgegangene BDP-Fraktion verweigert den parlamentarischen Eid, da sich sechs ihrer Abgeordneten in Haft befinden.

* Aus: junge Welt, 6. September 2011


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