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Kurden fordern "Gerechtigkeit statt Geld"

Entschädigung nach türkischem Luftangriff zurückgewiesen

Von Jan Keetman, Istanbul *

Der türkische Premier hatte von einem »betrüblichen« Missverständnis gesprochen und erklärt, er bedaure den Tod von 35 Zivilisten bei einem Luftangriff. Das angebotene Geld aber wollen die Familien der Opfer nicht.

Seit bei einem Luftangriff der türkischen Armee am 26. Dezember 34 jugendliche Schmuggler an der türkisch-irakischen Grenze getötet wurden, hängt die Frage über der türkischen Politik, wie es zu der tödlichen Verwechslung der Schmuggler mit Kämpfern der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) kommen konnte und wer die Entscheidung für den Angriff getroffen hat. Am Wochenende hat sich ein Ausschuss des Parlaments aus Ankara in die Nähe des Dorfes Ortasu getraut, aus dem die meisten der Opfer stammten. Mit Militäreskorte stapften die Parlamentarier durch den Schnee, besuchten die Gräber der jugendlichen Opfer, sprachen mit Angehörigen.

Die Vertreter der Opposition sehen die Regierung für das Massaker in der Verantwortung. Ein kurdischer Politiker hat sogar behauptet, Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan habe persönlich den Angriffsbefehl erteilt. Aber es ist manches merkwürdig an dem Vorfall.

Die Schmuggeltour zwischen zwei auf verschiedenen Seiten der Grenze gelegenen Dörfern wurde oft unternommen. Zumindest die Kommandanten vor Ort wussten das. Die Schmuggler wurden von Drohnen beobachtet und mit Artillerie beschossen. Darauf blieben sie mit ihren mit Zigaretten und Dieselkanistern beladenen Maultieren an einem Grenzstein auf freiem Feld zwei Stunden lang stehen. Eine Gruppe von Guerillas hätte nicht so eng beisammen gestanden und wäre entweder rasch weiter gegangen oder hätte Deckung gesucht. Das hätte den Militärs eigentlich auffallen müssen.

Ungehalten sind die Dörfler auch darüber, dass ihnen von Erdogan sehr rasch eine Entschädigung in ansehnlicher Höhe angeboten wurde, während sie den Eindruck haben, dass nach Schuldigen in der Befehlskette des Militärs weniger eifrig gesucht wird. »Wir wollen kein Blutgeld, wir wollen nur Gerechtigkeit«, sagt Mehmet Encü. Vor Jahren war er mit dem türkischen Militär an einer Operation gegen die PKK in Irak beteiligt. Dabei verlor er durch eine Minenexplosion beide Augen. Nun wurden seine beiden Söhne bei dem Bombardement getötet.

Inzwischen hat Emine Erdogan, die Ehefrau des Premiers, einen Besuch bei den Angehörigen angekündigt. Der sonst so reisefreudige Ministerpräsident selbst plant keinen Besuch in den kurdischen Bergen. Kurdenpolitik ist für Erdogan, dessen Partei immer mehr bei nationalistischen türkischen Wählern punktet, ohnehin schon seit Langem nicht mehr angesagt.

* Aus: neues deutschland, 9. Februar 2012


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