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Kurden protestieren vor dem Europarat

In Straßburg sind Intellektuelle, Künstler und Politiker im Hungerstreik - für Frieden mit der PKK

Von Martin Dolzer, Straßburg *

Seit fast einem Monat befinden sich Kurden in Straßburg im Hungerstreik. Vor dem Europarat protestieren sie gegen die Kurdenpolitik der türkischen Regierung und fordern ein Ende der Isolationshaft des PKK-Führers Abdullah Öcalan.

Auf dem Weg nach Straßburg denke ich an ein Gedicht des Dadaisten Hans Arp: »Die Kathedrale von Straßburg hat ein Herz«, heißt es darin. Jetzt steht vor einer zentral gelegenen Kirche ein Zelt. 15 kurdische Intellektuelle, Künstler und Politiker leben dort. Seit 29 Tagen sind sie im Hungerstreik - unbefristet, bis die Türkei Folter und Isolationshaft gegen den PKK-Führer Abdullah Öcalan beendet.

»Der Pfarrer hat uns, trotz starkem politischen Druck, einige Räume zur Verfügung gestellt, damit wir uns vor der Kälte schützen können«, erzählen mir die Hungerstreikenden bei der Begrüßung. Wochentags veranstalten sie Kundgebungen vor dem Europarat oder dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. »Wir haben uns dem unbefristeten Hungerstreik von 400 politischen Gefangenen in der Türkei, der seit Mitte Februar durchgeführt wird, solidarisch angeschlossen. Jede Woche nehmen rotierend etwa 35 weitere Menschen teil. Meist bleiben sie fünf Tage, um mit uns gemeinsam zu leben, zu diskutieren und ein kraftvolles Zeichen für den Frieden zu setzen«, sagt Fuad Kav.

Der Journalist und Autor wurde nach dem Militärputsch 1980 verhaftet und saß 20 Jahre in türkischen Gefängnissen. Kav hat ein Buch über seine Haftzeit geschrieben. Darin beschreibt er unter anderem, wie Polizisten zwei seiner Freunde zu Tode folterten. Er verdeutlicht, dass die Haftbedingungen sich seit den 80er Jahren nicht wesentlich verbessert haben. Erneut sind Folter und Misshandlungen an der Tagesordnung. Erst kürzlich wurde bekannt, dass in mehreren Gefängnissen Kinder systematisch von Wärtern und Häftlingen vergewaltigt werden.

Nach der Motivation für die drastische Aktionsform des Hungerstreiks gefragt, erklärt Kav: »Es geht uns um die friedliche Lösung der kurdischen Frage. Seit den Kommunalwahlen 2009 ließ die Regierung Erdogan im Rahmen der ›KCK Verfahren‹ (KCK steht für »Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans«) mehr als 6500 kurdische Politiker und Menschenrechtler inhaftieren. Darunter befinden sich sechs Parlamentarier, 31 Bürgermeister, 36 Anwälte, über 100 Journalisten und unzählige Frauenaktivistinnen. Wir fordern ihre Freilassung. Der Aufbau demokratischer, kommunaler Strukturen wird zynischerweise als Terrorismus gewertet.« Seit mehr als 230 Tagen sitze der kurdische Politiker Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali in Isolationshaft, ohne Kontakt zu Anwälten und Verwandten. Auf einer Tafel vor dem Zelt und auf den Westen der Hungerstreikenden in Straßburg ist zu lesen: »Freiheit für Öcalan - Ein Status für die Kurden«.

Fuad Kav skizziert ruhig einen Lösungsweg: »Öcalan kann eine ähnliche Rolle bei der Konfliktlösung spielen wie Nelson Mandela in Südafrika. Er wird von der Bevölkerung anerkannt. Ohne ihn als Dialogpartner wird es keinen Weg zum Frieden geben. Wir wollen den Europarat dazu bewegen, politischen Druck auf die türkische Regierung auszuüben, sodass die sich an Menschenrechte und das Völkerrecht hält und einen Friedensprozess mit der PKK beginnt.«

Vor dem Zelt versammeln sich täglich Dutzende Menschen. Aus Frankreich, der Schweiz und Italien kommen Delegationen. Für die nächsten Tage haben sich Abgeordnete der Linkspartei angekündigt. In einer Diskussionsrunde wird geäußert, dass die in der Türkei regierende AKP für die EU ein wichtiger strategischer, wirtschaftlicher und militärischer Bündnispartner ist. Deshalb werde deren feudalistisch-autoritäre Politik ignoriert - das gelte selbst für Menschenrechtsverletzungen, bis hin zu Chemiewaffeneinsätzen.

»Der Widerstand der Kurden gegen die menschenverachtende Politik der AKP ist völkerrechtlich legitim und kein Terrorismus«, geben mir die Hungerstreikenden zum Abschied mit auf den Weg. »Um den Menschen das bewusst zu machen, befinden wir uns im Hungerstreik.«

In Straßburg haben nicht nur die Kathedralen ein Herz, sondern auch die Menschen davor - vor allem haben sie dort einen Ort der Kommunikation gefunden.

* Aus: neues deutschland, 29. März 2012


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