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Eskalation als Programm

Türkei: Generäle fordern schärfere Gesetze zum "Kampf gegen den Terror"

Von Nico Sandfuchs, Ankara *

Das türkische Militär wird seine Offensive gegen die kurdische Guerillaorganisation PKK ausweiten -- und gleichzeitig auf eine Rücknahme der zaghaften Verbesserungen bei den Freiheitsrechten dringen, die die konservativ-islamische Regierung von Tayyip Erdogan im Zuge der EU-Reformen umgesetzt hat. Dies stellte der neue türkische Generalstabschef Ilker Basbug klar, der am gestrigen Donnerstag die Nachfolge von Amtsvorgänger Yasar Büyükanit antrat. »Wir werden den Kampf fortsetzen, bis auch der letzte Terrorist beseitigt ist«, hatte Basbug bereits in einer Rede am Mittwoch gelobt. Gleichzeitig forderte der neue Oberkommandierende alle staatlichen Institutionen, die Wirtschaft und die Gesellschaft zu einem »konzertierten Schlag« gegen die PKK auf. Zukünftig solle der Kampf nicht nur auf der militärischen Ebene, sondern durch eine »totale Mobilisierung« sämtlicher Kräfte auf allen Ebenen geführt werden.

Der Paradigmenwechsel, der sich seit dem Frühjahr vergangenen Jahres in der türkischen Militärführung abzeichnete, ist somit vollzogen. Während Basbugs Amtsvorgänger Yasar Büyükanit bis zu seiner Putschdrohung im April 2007 noch die »Unterwanderung der säkularen Staatsordnung« durch die Regierung Erdogan als »Hauptbedrohung« ausmachte, ist seitdem die »Bedrohung durch den kurdischen Separatismus« in den Mittelpunkt gerückt. In seiner Rede vom Mittwoch ging auch der neue Generalstabschef nur noch am Rande auf die »religiöse Gefahr« ein.

Grund für den Paradigmenwechsel dürfte eine Übereinkunft zwischen Erdogan und dem politisch mächtigen Militär nach der schweren Konfrontation im Frühsommer 2007 sein. Damals gab Erdogan seinen Generälen plötzlich freie Hand in der Kurdenfrage, stellte ihnen durch eine Parlamentsermächtigung im vergangenen Oktober sogar eine Blankovollmacht für militärische Abenteuer im Nord­irak aus. Kaum zufällig sind im selben Zeitraum die Angriffe auf die Regierung im Diskurs der türkischen Generäle deutlich zurückgegangen.

Die neue Militärführung wird nun weitere Zugeständnisse in der Kurdenfrage einfordern. Isik Kosaner, der neue Oberkommandierende des Heeres, forderte am Mittwoch, daß die »Balance zwischen Terrorbekämpfung und Menschenrechten neu überdacht« werden müsse. Die von der EU verordneten Reformen zur Ausweitung der Freiheits- und Minderheitenrechte behinderten die Arbeit der Militärs, so der General. Dringend müßten nun »neue Gesetze« her, die den Sicherheitskräften ein »effizienteres Vorgehen« ermöglichten.

Bislang haben sich türkische Regierungen entsprechenden »Wünschen« der Armeeführung selten verschlossen -- und die Regierung Erdogan dürfte nach den Turbulenzen der vergangenen Monate durchaus ein Interesse haben, den Eifer der Militärs auch weiterhin in Richtung Kurdenfrage umzulenken. Entsprechende Gesetzesänderungen seien »möglich«, ließ der Vorsitzende der Verfassungskommission im türkischen Parlament, Burhan Kuzu, am Donnerstag bereits durchblicken. Bei den Menschenrechtsorganisationen klingeln deshalb sämtliche Alarmglocken. »Es sieht so aus, als ob sich das politische Klima weiter verschärfen und die freiheitliche Grundrechte erneut beschnitten würden«, glaubt Yavuz Önen von der »Menschenrechtsgesellschaft Türkei« (TIHV).

* Aus: junge Welt, 29. August 2008


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