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Warum bremst Ankara die NATO?

Türkei sieht außenpolitische Position gefährdet

Von Jan Keetman, Istanbul *

Nachdem die türkische Diplomatie von der Libyen-Krise überrollt worden war, versuchte Ankara in der NATO erst einmal zu bremsen. Einerseits kritisierte der türkische Verteidigungsminister Frankreich für seine führende Rolle bei den Angriffen scharf, andererseits bremste die Türkei bei einer Übernahme des Kriegskommandos durch die NATO. Man solle erst gründlich planen, um zivile Opfer zu vermeiden.

Ankara geht es nicht nur darum, wie die NATO militärisch agiert, sondern auch darum, wie weit sie agiert. Die Türkei legt die Resolution 1973 eng aus. Demnach geht es darum, Gaddafis Luftwaffe vom Fliegen abzuhalten. Die bisherigen Angriffe zeigen aber eine sehr viel weitere Auslegung. So wurden Panzer auf dem Weg nach Bengasi angegriffen und selbst ein Gebäude im Hauptquartier Gaddafis.

Die enge Auslegung reduziert die Gefahr, dass Zivilisten durch die NATO getötet werden. Andererseits lässt sie Gaddafi freie Hand, seine Gegner mit anderen Waffensystemen zu bekämpfen, was einen längeren Bürgerkrieg erwarten lassen könnte.

Hinter der türkischen Haltung stecken Probleme in der Konzeption der türkischen Außenpolitik. Mit großem Geschick hatte Außenminister Ahmet Davutoglu die Türkei in die Rolle eines Vermittlers zwischen dem Westen und der islamischen Welt gebracht. Diese Rolle resultierte gerade auch daraus, dass die türkische Regierung zu »problematischen« Staaten und Bewegungen in der Region – Iran, Syrien, Hamas – gute Beziehungen hatte.

Mit Husni Mubaraks Sturz hatte man in Ankara keine großen Probleme; als aber auch Gaddafis Macht wankte, war das anders. Während in der Öffentlichkeit wenig Sympathie für Gaddafi bestand, weigerte sich Ministerpräsident Tayyip Erdogan, den ihm vor knapp vier Monaten verliehenen »Muammar-al-Gaddafi-Preis für Menschenrechte« zurückzugeben. Erdogans Begründung: Er habe den Preis zu Recht erhalten, Kritik an Gaddafi könnte die zu diesem Zeitpunkt noch nicht evakuierten 25 000 türkischen Arbeiter gefährden und Libyen sei für türkische Firmen wichtig. Schließlich hatten türkische Firmen insbesondere der Bauindustrie Aufträge über 30 Milliarden Dollar aus Libyen in ihren Büchern stehen. Erst als der Abgang Gaddafis nach der jüngsten Resolution des Sicherheitsrates wahrscheinlicher wurde, ging auch Erdogan auf deutlichere Distanz.

Allerdings greift es zu kurz, hinter der zögerlichen türkischen Haltung nur ökonomische Interessen in Libyen zu sehen. Die Welt, in der sich die türkische Diplomatie eingerichtet hatte, beginnt sich rasant zu verändern. Damit droht man nicht nur Gaddafi zu verlieren, auch Baschar al-Assads Herrschaft in Syrien droht zu wackeln. Damit verlöre Erdogan einen engen Partner, den er erst jüngst als Bruder bezeichnet hat. Auch ein Wackeln der Golfmonarchien kann Erdogan nicht recht sein.

Es geht nun alles sehr schnell und ohne türkische Diplomatie. Allerdings bleibt Erdogan und seinem Außenminister Davutoglu ein Trost: Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Westen die türkische Diplomatie bald wieder brauchen wird.

* Aus: Neues Deutschland, 22. März 2011


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