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"In 20 Jahren wurden 76 Mitarbeiter umgebracht"

Die türkisch-kurdische Zeitung Özgür Gündem ist seit ihrer Gründung dem Militär ein Dorn im Auge. Ein Gespräch mit Bayram Balci *


Bayram Balci ist Redakteur der in der Türkei erscheinenden linken prokurdischen Tageszeitung Özgür Gündem (Freie Tagesordnung), die als erste Tageszeitung die kurdische Frage thematisiert hat.


In der Türkei hat kürzlich die prokurdische Tageszeitung Özgür Gündem ihren 20. Geburtstag gefeiert. Können Sie uns einige Stichworte zu ihrer Geschichte geben?

Özgür Gündem ist am 30. Mai 1992 zum ersten Mal erschienen. Schon in der ersten Woche haben wir die Staatsgewalt zu spüren bekommen. Insgesamt sind in den vergangenen 20 Jahren 76 unserer Mitarbeiter umgebracht worden.

Im September 1992 wurde unser damals ältester Mitarbeiter, der kurdische Schriftsteller Musa Anter, im Alter von 72 Jahren ermordet. Er wurde von der Konterguerilla vom Hotel abgeholt und auf der Straße erschossen. Nach Musa Anter wurde später ein Journalistenpreis benannt.

Die Redaktionen unserer Zeitung in Istanbul und Ankara wurden im Dezember 1994 auf Befehl der damaligen Ministerpräsidentin Tansu Ciller in die Luft gesprengt. Ich werde das nie vergessen. Es ist uns an diesem Tag dennoch gelungen, eine Ausgabe mit der Schlagzeile »Dieses Feuer wird euch auch verbrennen!« herauszubringen.

Wie ist jetzt die Lage?

Bereits ein Jahr nach ihrem ersten Erscheinen wurde die Zeitung verboten. Das geschah später mehrfach, so daß wir immer wieder ihren Namen ändern mußten. Doch egal unter welchem Namen die Zeitung erschien – die Leser haben am Kiosk immer nach der Gündem verlangt.

Im vergangenen Jahr sahen wir den Augenblick gekommen, unsere Zeitung wieder so wie früher zu nennen. Doch im November 2011 wurde unser Hauptbüro von der Polizei durchsucht, 40 unserer Mitarbeiter wurden festgenommen. Momentan sind 97 Journalisten in der Türkei im Gefängnis, darunter zehn Mitarbeiter unseres Blatts.

Fragen Sie sich manchmal, was aus Ihren früheren Kollegen wurde?

Ich vergleiche unsere Zeitung gerne mit dem mythologischen Schiff ohne Kapitän. Denn auch wir kommen ohne Boß aus und werden nur von unseren Lesern finanziert.

Aus diesem Grund gibt es immer eine Fluktuation. Viele Kollegen sind gegangen, weil sie dem Druck nicht mehr standhalten konnten. Manche von ihnen haben eine Haftstrafe bekommen und sind ins Exil geflüchtet. Aber bis zu 400 Journalisten, die bei uns angefangen hatten, arbeiten heute bei anderen Redaktionen und TV Sendern! Gündem ist also eine Art Journalistenschule. Nur wenige von uns sind von Anfang an dabei. Ich selbst habe zu der Zeitung eine emotionale Bindung entwickelt, fast eine Liebesbeziehung.

Ist es nicht schwierig, neue Mitarbeiter zu finden?

Nachdem die Polizei vergangenes Jahr unsere Büros überfallen und unsere Mitarbeiter verhaftetet hatte, kamen viele Freiwillige zu uns. Doch da ihnen die Ausbildung fehlt, ist es natürlich schwer, eine professionale Zeitung zu machen. Aber von Anfang an haben wir das geschrieben, was die anderen verschweigen – und das hat dazu geführt, daß die Leser uns folgen.

Wie reagieren die anderen Medien der Türkei auf Gündem?

In den 90er Jahren, als unsere Mitarbeiter vom Militärgeheimdienst JITEM ermordet wurden, haben die großen Medien und die Journalistenverbände der Türkei uns sehr vernachlässigt – so, als ob wir gar nicht existieren. Nur in Europa haben manche Journalistenverbände auf uns aufmerksam gemacht. Aber als wir im vergangenen Jahr erstmals wieder als Gündem erschienen, haben viele Medien Selbstkritik geübt. Der liberale Kolumnist Mehmet Ali Birand etwa schrieb: »Der Staat hat am Anfang versucht, Gündem zu vernichten und wir haben damals zugesehen. Jetzt müssen wir sie unterstützen.«

Als die Zeitung vom 11. Strafgericht von Istanbul im März dieses Jahres für einen Monat verboten wurde, haben das viele Medienvertreter offen kritisiert. Danach hat die Regierung das Verbot aufheben müssen. Aber das heißt nicht, daß die Presse jetzt frei ist. Bald soll ein neues Gesetz im Parlament verabschiedet werden, das auf tägliche Zensur herausläuft. Vielleicht wird die Gündem dann nicht mehr verboten, aber täglich »aufgeräumt«.

Interview: Hüseyin Inan

* Aus: junge Welt, Dienstag, 19. Juni 2012


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