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Verhandelt wird der Fall "Vorschlaghammer"

Türkische Offiziere müssen sich für angeblichen Putschplan gegen die Regierung verantworten / Premier Erdogan scheint an Schuldspruch stark interessiert

Von Jan Keetman, Istanbul *

Wegen eines mutmaßlichen Putschplanes ranghöchster türkischer Offiziere gegen die islamisch-konservative Regierung macht die Justiz des Landes in Silivri, westlich von Istanbul, seit Donnerstag (16. Dez.) fast 200 Verdächtigen den Prozess. Hauptangeklagte sind General a.D. Cetin Dogan und der frühere Luftwaffenchef Ibrahim Firtina.

In einem Mammutprozess gegen 196 Angeklagte sollen erstmals in der Geschichte der Türkei Offiziere wegen eines nie ausgeführten Putschplanes zur Rechenschaft gezogen werden. Unter den Angeklagten, von denen sich viele im Ruhestand befinden, sind wohl alle Ränge der türkischen Armee bis hin zu Kommandanten der Teilstreitkräfte vertreten. Für die Armee, die als einzige in der NATO dreimal geputscht hat, kommt das Verfahren einer Götterdämmerung gleich. Es gibt allerdings auch Zweifel an der Anklage.

Diesmal geht es um mutmaßliche Planungen der Armee im Winter 2002/03. Am 2. November 2002 hatte Recep Tayyip Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, die als gemäßigt islamisch gilt, die Parlamentswahlen gewonnen. Das laizistisch orientierte Establishment der Türkei rieb sich die Augen und tröstete sich mit dem halb scherzhaft gemeinten Spruch: »Zur Not gibt es ja noch die Armee.« Die in der Tradition des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk stehenden Streitkräfte gelten als Garanten der Trennung von Islam und Staat.

Laut Anklage sollen Offiziere bereits zehn Tage nach der Wahl mit Überlegungen für einen Putsch begonnen haben. Die Verschwörer nannten ihr Projekt »Vorschlaghammer«. Es umfasste die Teilpläne »Gewitter«, »Vertäuen«, »Tschador« und »Bart«.

Vorgesehen war zunächst, die Regierung zu destabilisieren, um die Atmosphäre für ein Eingreifen des Militärs zu schaffen. Dazu sollten im Februar bei einem Freitagsgebet in zwei großen Moscheen in Istanbul Bomben gezündet werden.

Als Koordinator für den Plan trat ein erfahrener Offizier auf – der heute 70-jährige Armeegeneral Cetin Dogan. Er hatte in den 90er Jahren die »Arbeitsgruppe West« des Militärs geleitet. Dieser Stab hatte 1997 wesentlich zur Destabilisierung der Regierung von Necmettin Erbakan beigetragen, der der Streitkräfteführung als islamischer Fundamentalist galt. Erbakan trat damals nach einer kaum verschleierten Putschdrohung zurück. Von der Justiz verfolgt wurde das allerdings nicht. Im Gegenteil, Erbakan wurde mit einem Politikverbot belegt.

Der Putschplan des Jahres 2003 umfasste laut Anklage 5000 Seiten und wurde bei einem Seminar von Militärs in einer Kaserne in Istanbul Anfang März 2003 besprochen. Doch gingen die Generäle nie an die Umsetzung von »Vorschlaghammer«. Mutmaßliche Putschpläne späterer Jahre sind Gegenstand anderer Verfahren.

Möglicherweise wäre alles im Sande verlaufen, doch im Januar dieses Jahres stellte ein Unbekannter einen Koffer bei der Zeitung »Taraf« ab. In dem Koffer befanden sich Dokumente des Militärs – über zweitausend gedruckte Seiten, mehrere CD und Audiokassetten. Die Pläne für das Unternehmen »Vorschlaghammer« befanden sich auf der in der Anklageschrift als Nr. 11 bezeichneten CD.

Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein. Reihenweise wurden Offiziere in Untersuchungshaft genommen. Der Justizminister kritisierte einen Richter, der Offiziere aus der Untersuchungshaft wieder entlassen hatte Mittlerweile scheint es eine Art Kompromiss gegeben zu haben. Kein Angeklagter ist mehr in U-Haft, und die Anklage fordert für türkische Verhältnisse moderate Strafen von 15 bis 20 Jahren. Die Militärführung schweigt.

Doch wie sicher sind die Informationen auf CD Nr. 11? Die Zweifel an der Anklage beginnen mit einer einfachen Feststellung. Der angebliche Putschplan trägt keine Unterschriften. Dass man einen Putschplan auf einem Seminar mit über hundert Teilnehmern bespricht, erscheint außerdem nicht besonders plausibel. Es kommt hinzu, dass in den Dokumenten drei Offiziere wegen »religiöser Neigungen« als unzuverlässig bezeichnet werden. Die drei waren aber bei dem Seminar anwesend.

Die Tochter des mutmaßlichen Putschplaners Cetin Dogan, Pinar Dogan, und ihr Mann Dani Rodrik, die beide an der renommierten Harvard University in den USA Ökonomie lehren, haben zahlreiche Ungereimtheiten in der Anklageschrift aufgedeckt. So sollten laut Plan Korankurse in staatlichen Stellen dichtgemacht werden, die es im Jahr 2003 dort aber noch gar nicht gab. Ein Krankenhaus trägt in den Plänen einen Namen, den es erst später erhielt usw.

Doch in der Türkei werden die Entdeckungen des Ehepaars Dogan/Rodrik von vielen Medien einfach ignoriert. Rodrik sagt, er habe manchmal das Gefühl, dass sie wie Don Quichotte gegen Windmühlen kämpfen. Ein Teil der liberalen Öffentlichkeit, deren Sprachrohr »Taraf« ist, sieht in dem Prozess vor allem eine Gelegenheit zur Demokratisierung der Türkei. Schwächen der Beweismittel spielen für sie keine Rolle.

Die Regierung hat von der Anklage gegen das Militär stark profitiert, ein Freispruch käme ihr sicher nicht gelegen. Es wäre möglich, dass sie im Zweifelsfall erneut Druck auf die Justiz ausübt. Es mag ja Zufall sein, aber es gibt immerhin zu denken, dass zwei Tage vor Verhandlungsbeginn, der vorsitzende Richter versetzt wurde.

Lexikon: Türkisches Militär

Die türkischen Streitkräfte umfassen Heer, Luftwaffe und Marine. Die Truppenstärke beträgt derzeit 514 000 Mann. Das bedeutet den fünften Rang weltweit. Innerhalb der NATO ist die türkische nach der US-amerikanischen die zahlenmäßig stärkste Armee. Das Militärbudget 2010 beträgt 9,9 Milliarden Dollar.

Der Oberbefehl über die Streitkräfte liegt beim Generalstabschef. Er wird vom Staatspräsidenten ernannt und ist dem Ministerpräsidenten gegenüber verantwortlich. Seit August 2008 ist General Isik Kosaner Generalstabschef.

In Friedenszeiten unterstehen Gendarmerie und Küstenwache dem Innenministerium, werden im Kriegsfall aber dem Heeres- bzw. dem Marinekommando unterstellt. Die 180 000 Mann starke Gendarmerie ist neben ihren Aufgaben als Militärpolizei auch für innere Sicherheit, Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, Strafverfolgung und Grenzschutz zuständig.

Der Beginn der Geschichte des modernen türkischen Militärs lässt sich auf das Ende des Ersten Weltkrieges und den dadurch ausgelösten Zusammenbruch des Osmanischen Reiches festlegen. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg waren das türkische Kernland durch Truppen aus Großbritannien, Frankreich, Italien und Griechenland besetzt und die Osmanische Armee aufgelöst worden. Mustafa Kemal Pascha (als Staatschef später Atatürk – Vater der Türken – genannt), der siegreiche Oberkommandierende im folgenden Befreiungskrieg von 1922, gründete nach der Proklamation der Republik im Jahre 1923 auch die Streitkräfte neu.

Bedingt durch die strategisch günstige Lage wurde die Türkei nach 1945 im beginnenden Kalten Krieg zum begehrten Mitglied der NATO. Auf Initiative der USA wurde ein NATO-Südostkommando eingerichtet, das von einem USA-General geführt wird, mit Stellvertretern aus Griechenland und der Türkei. ND



* Aus: Neues Deutschland, 17. Dezember 2010


Offiziere unter Anklage

Erstmals müssen sich in der Türkei Militärs vor einem zivilen Gericht verantworten

Von Nick Brauns **


Der Machtkampf zwischen der islamisch-konservativen AKP-Regierung und dem kemalistisch-laizistischen Lager der Türkei hat einen neuen Höhepunkt erreicht. Seit dem gestrigen Donnerstag (16. Dez.) wird vor der 10. Großen Strafkammer in Silivri bei Istanbul gegen 196 noch aktive oder bereits pensionierte Offiziere unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt. Den Angeklagten, darunter 18 Generäle und Admirale, wird vorgeworfen, Ende 2002 einen Umsturz geplant zu haben.

Das von der AKP durchgeführte Verfassungsreferendum vom September 2010 ermöglichte es, daß sich erstmals in der Geschichte der türkischen Republik Armeeangehörige vor einem ziviles Gericht verantworten müssen. Ihnen drohen Haftstrafen bis zu 20 Jahren. Ein 5000seitiger Plan mit dem Codenamen »Vorschlaghammer«, der Anfang des Jahres der liberalen Tageszeitung Taraf zugespielt wurde, sah demnach vor, durch Anschläge auf Moscheen, die Ermordung christlicher und jüdischer Geistlicher sowie die Provokation eines Luftzwischenfalls mit Griechenland Chaos zu erzeugen, um so den Ruf nach einer Machtübernahme des Militärs vorzubereiten.

Das Vorhaben soll vom Stab der 1. Armee in Istanbul ausgearbeitet worden sein. Deren damaliger Kommandeur, General Cetin Dogan, versicherte als Hauptangeklagter vor Prozeßbeginn erneut, es handele sich bei den Papieren lediglich um Manöverpläne für routinemäßige Strategieseminare. Diese seien manipuliert worden, um die Armee zu belasten. Nach deren Veröffentlichung waren im Februar dieses Jahres mehr als 60 Offiziere verhaftet worden. Zum Prozeßauftakt befanden sich alle Angeklagten wieder in Freiheit. Zuvor waren sie von konkurrierenden, teils von Regierungsanhängern und teils von Anhängern der laizistischen Opposition besetzten Gerichten mehrfach freigelassen und erneut verhaftet worden. Zwei Tage vor Prozeßbeginn wurde der Vorsitzende Richter Zafer Baskurt vom Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) abberufen. Ermittlungen hätten ergeben, daß Baskurt und der ebenfalls versetzte Richter Erkan Canak in »dunkle Pläne involviert seien, um die Richtung des Vorschlaghammerprozesses zu ändern«, behauptet die regierungsnahe Tageszeitung Today´s Zaman. So sollen die Richter Kontakte mit Angeklagten im sogenannten Ergenekon-Prozeß gegen ein weiteres mutmaßliches nationalistisches Putschistennetzwerk gehabt haben.

»Der Vorsitzende hat den Fall vier Monate lang studiert. Der neue Vorsitzende wird Zeit brauchen, um den Fall zu verstehen«, kritisiert Dogans Verteidiger Celal Ülgen den kurzfristigen Richterwechsel. So stützt sich die 968seitige Anklageschrift auf 183 Akten mit etwa 100000 Blatt Papier. Kritiker werfen der Generalstaatsanwaltschaft und der AKP vor, mit illegalen Abhörmethoden und fingierten Beweisen sowie politischem Druck auf den HSYK politische Gegner aus dem laizistischen Lager mundtot machen zu wollen.

** Aus: junge Welt, 17. Dezember 2010


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