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Von Minderheiten, Nationalismus und Repression

Türkische Staatsführung und Justiz greifen hart durch

"Armenier" wird geradezu als Schimpfwort gebraucht

Erdal Dogan, Rechtsanwalt der Familie Hrant Dinks, über die Minderheitenpolitik Ankaras und die Rolle der türkischen Justiz

Frage: Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan hat eine Änderung des berüchtigten Paragrafen 301 über die Beleidigung des Türkentums angekündigt. Beginnt die Regierung jetzt, nationalistische Auswüchse zu bekämpfen?

Erdal Dogan: Das ist Augenwischerei. Die geplante Formulierung ist eine Rückkehr zu genau der Fassung, die zur Verurteilung Hrant Dinks wegen Beleidigung des Türkentums herangezogen wurde. Dieser Paragraf muss ganz gestrichen werden.

Der Mord an Hrant Dink jährte sich am 19. Januar, der erste Jahrestag des Mordes an drei christlichen Missionaren in Malatya steht noch bevor. In beiden Fällen sind türkische Nationalisten als Täter überführt. Nimmt der extreme Nationalismus zu?

Der türkische Nationalismus ist tief in der Geschichte der Türkei verwurzelt. Die nicht-muslimischen Minderheiten wurden immer schon als Ungläubige gebrandmarkt – das gilt auch für die Überlebenden des Völkermords an den Armeniern. Der Ausdruck Armenier wird auch von Politikern immer wieder als Schimpfwort gebraucht. Viele der in der Türkei lebenden Armenier benutzen deshalb einen türkischen Namen, um sich vor Diskriminierung zu schützen. Dasselbe gilt für die verbliebenen Griechen. Es gibt in der Türkei eine rassistische Grundstimmung, die sich in der letzten Zeit zu einer Lynchatmosphäre gesteigert und zu Mordangriffen geführt hat. Die Brandreden fallen auf fruchtbaren Boden, begünstigt durch die ungelöste kurdische Frage. Das führt zu einer Eskalation des Nationalismus. In jüngster Zeit werden bei Begräbnissen junger gefallener Soldaten nationalistische Parolen skandiert und der Nationalismus wird geschürt.

Woher rührt die wachsende Aggressivität des Nationalismus?

Das liegt vor allem an der aufgeflammten Diskussion um den Völkermord an den Armeniern und der De-facto-Existenz eines kurdischen Staates in Nordirak. Das sorgt für Unbehagen in der Türkei. Eine offizielle Aufzählung des Generalstabs über die größten Gefahren für die Türkei nennt den kurdischen Staat in Nordirak an erster Stelle – vor der Gefahr durch islamischen Terror. Und erst an dritter Stelle folgt die kurdische Untergrundorganisation PKK. Zum ersten Mal gibt es einen Staat mit dem Namen Kurdistan, direkt an der türkischen Grenze – und das, wo Ankara das ungelöste Problem mit den Kurden im eigenen Land hat. Dazu kommt, dass in den letzten Jahren rund ein Dutzend Staaten in aller Welt den Völkermord an den Armeniern anerkannt haben. Da die Türkei keinen friedlichen Politikansatz hat, um auf die Genoziddiskussion und die kurdische Frage Antworten zu finden, fühlt sie sich in die Enge getrieben.

Bei der Beerdigung Hrant Dinks gab es eine riesige Demonstration unter dem Motto »Wir sind alle Armenier«. Gibt es wachsende gesellschaftliche Widerstände gegen den türkischen Nationalismus?

Diese Gegenreaktion gibt es in der Tat. Aber der Staat geht sehr aggressiv gegen solche Bekundungen vor. Deswegen ist es bisher nicht möglich, kontinuierlich das Gegenbewusstsein aufzubauen.

Welche Wirkung hatte die Losung »Wir sind alle Armenier« auf die Gesellschaft?

Das türkische Geschichtsverständnis beruht auf einer Feindschaft gegen Griechen und Armenier. Dieser Slogan hat das auf den Kopf gestellt und entsprechend für Verwirrung gesorgt.

Deswegen reagiert der Staat mit übertriebener Härte?

Nicht nur das. Sie fürchten sich davor, dass ihre Politik vor dem Bankrott steht, die auf dem Feindbild der Armenier basiert. Das lässt sie überreagieren. Selbst die kurdische PKK, die als Terroristenorganisation definiert wird, wird von Ankara als »Armenierbrut« bezeichnet. Wenn Zivilisten, Intellektuelle, Professoren aufstehen und symbolisch sagen »Wir sind Armenier«, ist dies für die türkische Staatsdoktrin ein Offenbarungseid, und das schürt Panik bei Regierung und Militärführung.

Welche Rolle spielt die Justiz? Die Prozesse wegen des Mordes an Hrant Dink und in der Mordsache Malatya laufen noch. Früher gab es nicht einmal Verfahren in solchen Fällen. Ist das nicht ein gewisser Fortschritt?

Zum einen wird der Europäischen Union und der Weltöffentlichkeit verkündet: Schaut her, wir haben die Täter gefasst, es geht alles seinen rechtstaatlichen Gang, ihr müsst euch keine Sorgen machen. Gleichzeitig wird die Präsentation der jugendlichen Täter im Inland als Einschüchterung gebraucht. Sie senden damit die Botschaft an die Gesellschaft, dass solche Lynchmorde jederzeit passieren können. Die Jugendlichen werden zu Helden stilisiert. Die Hintermänner wird die Justiz unbehelligt lassen.
Von Fortschritt kann keine Rede sein. Vielmehr werden die Reformen zu Beginn des Jahrtausends wie die Revision des Strafgesetzbuches und der verbesserte Minderheitenschutz durch neue Gesetzgebungen ausgehebelt, die in Richtung eines totalitären Staates gehen.

* Aus: Neues Deutschland, 24. Januar 2008


Atatürk und das Internet

Weil "Turkomaymun" es an Respekt fehlen ließ: Seit einigen Tagen ist das YouTube-Portal in der Türkei geschlossen

Von Nico Sandfuchs, Ankara **


Bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres hat die Türkische Telekom die Internetverbindung zum populären US-amerikanischen Videoportal YouTube gekappt. Grund für die mittlerweile sechs Tage währende Unterbrechung ist ein Video, das ein Nutzer mit dem Phantasienamen »Turkomaymun« eingespielt hat. Es überzieht den türkischen Nationalheiligen Mustafa Kemal Atatürk mit Spott. Das Video zeuge von »Respektlosigkeit gegenüber Atatürk und dem Türkentum«, befand der 12. Strafgerichtshof von Ankara -- und ordnete kurzerhand eine Sperrung des gesamten Webportals an, bis die Betreiber das beanstandete Video entfernen.

Die rechtliche Grundlage dieses Vorgehens ist ein Internetgesetz, das im Mai verabschiedet wurde und Ankara die Möglichkeit gibt, Internetseiten zu verbieten, in denen der Staatsgründer Atatürk oder die türkische Nation »herabgesetzt« werden. Kritiker sind davon überzeugt, daß das Gesetz auf dem besten Wege ist, für die Meinungsfreiheit im Internet zur selben »Geißel« zu werden wie der berüchtigte »Türkentum-Paragraph« 301 des Türkischen Strafgesetzbuches für die Printmedien.

Tatsächlich ist die Zahl der Fälle, in denen Internetportale wegen des Postings eines einzigen anonymen Nutzers komplett geschlossen wurden, seit Verabschiedung des Gesetzes steil nach oben geschossen. So ist seit August der Zugang zu dem Weblog-Pub­lisher WordPress.com gesperrt. Die renommierten türkischen Portale Eksisözlük, Superpoligon und antoloji.com waren von zeitweiligen Verboten betroffen. Hinzu kommen allein für die letzten Monate mehrere Dutzend kurdische und linke Internetseiten. Einige Artikel des Strafgesetzbuches stehen dem Internet-Gesetz in puncto Auslegbarkeit der Bestimmungen in nichts nach.

Wohin der allgemeine Trend geht, bekommen türkische Internetcafébesucher bereits jetzt voll zu spüren. Seit dem letzten Jahr ist die Verwendung bestimmter Filter obligatorisch. Hunderte unerwünschte Internetseiten sind für Nutzer, die keinen eigenen Internetzgang haben, seitdem nicht mehr zu erreichen -- darunter nahezu alle Seiten, die kritisch informieren.

** Aus: junge Welt, 24. Januar 2008


Auf der Todesliste: Leyla Zana und Orhan Pamuk ***

Ankara. Orhan Pamuk und Leyla Zana standen nicht nur ganz oben auf der inoffiziellen Liste der von Ankara als »Staatsfeinde« angesehenen Personen. Am Mittwoch wurde zudem bekannt, daß sowohl der Literaturnobelpreisträger als auch die bekannteste kurdische Politikerin, die über zehn Jahre wegen ihres Engagements hinter Gittern verbringen mußte, von einem faschistischen Geheimbund ermordet werden sollten. Zwar verhängte die Staatsanwaltschaft eine Nachrichtensperre über den Vorgang, doch wurde Pressemeldungen zufolge bekannt, daß eine »Attentatsliste« der Organisation »Ergenekon« existiert. Deren Name ist Programm: Die »Ergenekon«-Legende erzählt von Niedergang und Wiederaufstieg eines großtürkischen Reiches - und zugleich davon, daß dieses gegen andere ethnische Gruppen erkämpft werden muß.

Am Dienstag (22. Januar) nun wurden Medienberichten zufolge in einer spektakulären Polizeiaktion 33 »Ergenekon«-Mitglieder festgenommen. Darunter sollen sich prominente Rechtsaußen der türkischen Politikerszene ebenso wie mehrere ehemalige Militärs befinden. Einer von ihnen: Veli Kücük. Der pensionierter Brigadegeneral der Gendarmerie wurde seit langem im Zusammenhang mit vielen politischen Mordfällen der vergangenen Jahre genannt, doch trotzdem nie behelligt. So war Kücük während eines Prozesses gegen den türkisch-armenischen Schriftsteller Hrant Dink aufgetaucht. Dink sprach daraufhin davon, daß er nunmehr begriffen hätte, sich in aktuter Lebensgefahr zu befinden. Kurze Zeit später war er tot - ermordet am 19. Januar 2007 in Istanbul.

Daß es nun überhaupt zu den Verhaftungen kam, wurde in ersten Kommentaren als kleine Sensation gewertet. Alle Untersuchungen in Sachen »Verschwindenlassens« Hunderter fortschrittlicher Personen vor allem in den neunziger Jahren, aber auch aktuelle Nachforschungen bei politischen Morden, waren früher oder später im Sande verlaufen. Kücük beispielsweise hatte sich einer Kommission zu stellen, die aus drei Militärs bestand. Und die fand natürlich nichts gegen ihn heraus. Nun wirft die Staatsanwaltschaft den Verhafteten die »Bildung einer terroristischen Vereinigung« vor. Und die Frage steht: Wie werden die reaktionären Kreise des Landes in Militär und Staatsapparat darauf reagieren?

*** Aus: junge Welt, 24. Januar 2008


Großrazzien in türkischen Städten

Mehr als 30 Nationalisten festgenommen

Von Jan Ketman, Istanbul ****

Die türkische Polizei nahm am Dienstag (22. Januar) nach Presseberichten mehr als 30 Personen fest, denen die Bildung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wird. Die nationalistische Gruppe namens »Ergenekon« soll die Ermordung des Schriftstellers Orhan Pamuk und mehrerer Kurdenpolitiker geplant haben.

»Ergenekon« ist die mythische Heimat der Türken in Zentralasien. Unter den Personen, die in Istanbul und anderen Städten festgenommen wurden, sind bekannte Rechtsnationalisten und Unterweltgrößen. Der Anwalt Kemal Kerincsiz beispielsweise war es, der gegen Orhan Pamuk und den später ermordeten türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink Strafanzeigen wegen »Beleidigung des Türkentums« gestellt hatte. Der pensionierte Brigadegeneral Veli Kücük, in den 90er Jahren in Skandale um Verbindungen zwischen Staat und Mafia verstrickt, hatte Dink einige Monate vor dessen Tod persönlich bedroht. Auch der Anwalt eines der mutmaßlichen Dink-Mörders, Fuat Turgut, wurde festgenommen. Turgut hatte Dinks Witwe und deren Töchter angebrüllt: »Ihr sollt zur Hölle fahren, ihr Armenier!«

Auf die Spur der Gruppe kam die Staatsanwaltschaft im vergangenen Jahr, nachdem der pensionierte Oberst Fikri Karadag in Mersin einen Verein »Nationale Kräfte« gegründet hatte. Ein Video, das der Presse zugespielt worden war, zeigte, wie die Vereinsmitglieder auf den Koran schworen, für die Nation »zu sterben und zu töten«. Im Laufe der Ermittlungen fand die Polizei im Juni in Istanbul ein Waffenlager mit Handgranaten. Granaten der gleichen Serie waren bei Anschlägen auf die Zeitung »Cumhürriyet« benutzt worden.

Außerdem stieß die Polizei auf eine Liste mit Zielen, die Oberst Karadag einem Auftragsmörder übergeben haben soll. Dieser wiederum sei gefasst worden, als er Anschläge vorbereitete. Auf der Liste fanden sich die Namen Orhan Pamuks, eines Journalisten und mehrerer kurdischer Politiker – darunter die ehemalige Abgeordnete Leyla Zana und der Bürgermeister von Diyarbakir Osman Baydemir.

In der Presse wird nun über den Zusammenhang zwischen verschiedenen mysteriösen Morden und der Gruppe spekuliert. So wurde der Verdacht geäußert, die Bildung der Gruppe könnte mit Putschplänen zusammenhängen, von denen die Zeitschrift »Nokta« im März 2007 schrieb. Die Zeitschrift musste auf Druck des Militärs ihr Erscheinen einstellen.

Aus offiziellen Quellen weiß man bisher wenig über die Ermittlungen. Aus einer Erklärung von Staatsanwalt Aykut Cengiz Engin geht lediglich hervor, dass den Festgenommenen die Bildung einer terroristischen Organisation, Aufstachelung des Militärs und der Besitz von Sprengstoff vorgeworfen wird. Über den gesamten Fall wurde eine Nachrichtensperre verhängt. Um eine Stellungnahme gebeten, sagte Premier Recep Tayyip Erdogan nur: »Der Staat arbeitet.«

**** Aus: Neues Deutschland, 24. Januar 2008


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