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Wichtiger Sieg

Trotz Verbot feierten eine Million Menschen am Sonntag in Diyarbakir Newroz. Eindrücke aus einer Stadt im Belagerungszustand

Von Kerem Schamberger *

Am vergangenen Wochenende in Diyarbakir. Die Situation ist gespannt. Auf den Straßen patrouillieren Sondereinsatzkommandos der Armee, im gesamten Stadtgebiet stehen Agenten der Geheimpolizei. So sollen Newroz-Feiern vor dem 21. März, dem offiziellen Datum für das Frühjahrs- und Freiheitsfest, entsprechend einem Verbot der türkischen AKP-Regierung verhindert werden. Die kurdische Freiheitsbewegung hatte aber bereits für Sonntag (18. März) zu Feierlichkeiten aufgerufen, damit so viele Menschen wie möglich teilnehmen können. So kommt es auch. Ab den frühen Morgenstunden des Sonntags finden sich Zehntausende auf dem von Polizisten umstellten Newroz-Platz ein. Sammelpunkte sind die Stadtteilbüros der kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), von wo es zu Fuß Richtung Festplatz geht.

Forderung nach Autonomie

Die Polizei setzt massenhaft Tränengas ein und schießt über die Köpfe der Ankommenden, die sich von allen Seiten dem Platz nähern, hinweg. Straßensperren werden von Herandrängenden überwunden, schließlich ist eine riesige Menge versammelt, die von Armeehubschraubern aus mit Tränengasgranaten beschossen wird. Die Menschen scheinen das gewohnt zu sein und haben eine eigene Abwehrtechnik entwickelt: Kaum ist eine Granate auf dem Boden gelandet, laufen viele zu der Stelle und häufen Erde darauf. Die Stimmung bleibt heiter, Frauen und Männer, Alte und Junge rufen »An Azadi, An Azadi« (kurdisch: Entweder Freiheit oder Freiheit). Der Newroz-Platz, der von der BDP-Stadtregierung ausgebaut wurde, faßt mehr als eine Million Menschen, so viele versammeln sich auch. Nur die Festbühne ist unfertig: Die Polizei hat am Vortag die gesamte Technik beschlagnahmt.

An einem Eingang zum Platz steht Özlem [1]. Sie ist Verkäuferin der kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem und verteilt die neueste Ausgabe. Für sie ist Newroz das Symbol des Widerstands. Die einzige Lösung des Konflikts liege in Gesprächen mit Imrali, sagt sie. Auf dieser Gefängnisinsel im Marmarameer sitzt der Führer der kurdischen Bewegung, Abdullah Öcalan, seit mehr als zwölf Jahren in Einzelhaft. Özlem betont: »Wir wollen keinen eigenen Staat, sondern Autonomie. Das ist es, worauf es uns ankommt«.

Kein Krieg

Die Wut auf die AKP-Regierung, die jede Hoffnung auf eine Annäherung an die kurdischen Forderungen im vergangenen Jahr zunichte gemacht hat, bricht sich Bahn. In der Nähe des Platzes werden Übertragungswagen der Telefongesellschaft Turkcell in Brand gesteckt. Erzählt wird, daß der Konzern Handy-Daten an die Behörden weiterleitet. Auf vorüberfahrende Polizeiautos prasseln Steine.

Erst gegen Mittag entspannt sich die Lage, die Polizei hat sich zurückgezogen. In aller Eile werden Essensstände aufgebaut. Überall auf dem Gelände und den umliegenden Grünflächen sitzen Familien und machen Picknick. Neben einem Bild von Öcalan wird aus leeren Tränengasgranaten das Wort »Apo« geformt, die Abkürzung seines Vornamens.

Etwas abseits sitzt Hasan, ein Mitglied des BDP-Kreisvorstandes von Diyarbakir, mit seinen jüngeren Schwestern. Sein Bruder ist 2003 in die Berge zur Guerilla gegangen, im gleichen Jahr wurde Hasan zur türkischen Armee eingezogen. Er sagt im Gespräch, das kurdische Volk wolle keinen Krieg. Mit Waffen und Blutvergießen werde es keinen Frieden geben. Seine Forderung: Die Politiker sollen sich zurückziehen und die Völker miteinander reden lassen.

Das Fest wird jetzt wirklich zur Feier: Trommeln sind zu hören, die Menschen singen kurdische Freiheitslieder. Plötzlich wird deutlich sichtbar eine Fahne der SLBT-Bewegung (SLBT steht für Schwul, Lesbisch, Bisexuell, Transgender) in die Höhe gehalten und geschwenkt. Der Träger ist Mehmet, ein Student aus Istanbul. Er ist dort in der kurdischen Bewegung aktiv und arbeitet momentan daran, einen SLBT-Verein in Diyarbakir zu gründen. Das stößt auf Widerstand, aber er ist positiv gestimmt: »Die BDP arbeitet mit uns zusammen, wir wollen uns als SLBT-Bewegung innerhalb ihrer Strukturen organisieren.« Die BDP und auch die PKK akzeptierten Rechte für Schwule.

Am Nachmittag machen sich die Feiernden in einem Demonstrationszug gemeinsam auf den Weg nach Hause. Erneut attackiert die Polizei sie mit Wasserwerfern und Tränengas. Die Menschen bleiben gelassen, ihnen ist bewußt, daß sie einen wichtigen Sieg errungen haben.

[1] Alle Namen wurden geändert

* Aus: junge Welt, 22. März 2012


Pressemitteilung

Türkische Regierung versucht friedliches Newroz zu sabotieren - Ein Toter, mehrere Schwerverletzte - Menge mit deutscher Menschenrechtsdelegation von Polizei mit Maschinenpistolen angegriffen

Gestern verkündete US-Präsident Obama in seiner Newroz-Botschaft: "Seit 3.000 Jahren ist Newroz für Millionen Menschen auf der ganzen Welt eine Zeit der Hoffnung." Zu dieser Hoffnung gehörte auch der Wunsch, dass dieses hohe kurdische Fest von "Mitgefühl, Familiensinn und Aufbruchsstimmung" geprägt sei und dem "Frieden und Fortschritt dienen" solle.

Einen Tag später, am heutigen Dienstag, griffen türkische Sicherheitskräfte in mehreren Städten die Newroz-feiernden Menschen mit Gasgranaten, Wasserwerfern und scharfen Schüssen an. Die TeilnehmerInnen einer von der Bundetagsabgeordneten Heidrun Dittrich, Die Linke, entsandten Menschenrechtsdelegation berichten aus Yüksekova (Provinz Hakkari) nahe der iranischen Grenze, dass die feiernde Menge, in der sich die Delegation befand, von Scharfschützen auf Dächern und von Polizisten mit Maschinenpistolen angegriffen wurde. Dabei hat es neben zwei Schwerverletzten viele weitere Verwundete gegeben. "Ein Angriff der Polizei auf eine feiernde Menge mit scharfer Munition ist nicht tolerierbar. Immer wieder verletzen und töten die türkischen Sicherheitskräfte protestierende KurdInnen."

Der türkischen Polizei war bekannt, dass die Menschenrechtsdelegation vor Ort befand, als sie scharfe Munition einsetzte. Wenige Meter von den MenschenrechtsaktivistInnen entfernt schlugen die Kugeln ein. Bereits im Juni 2011 war nach den Parlamentswahlen in der kurdischen Stadt Sirnak, in der feiernden Menge, in der sich die Delegation des Bundestagsabgeordneten Harald Weinberg, Die Linke befand, eine Granate gezündet worden. „Auf diese Weise soll die kurdische Bevölkerung nahe der türkisch/irakischen Grenze sanktioniert werden, wenn internationale Menschenrechtsbeobachter anwesend sind. Und MenschenrechtsaktivistInnen aus dem Ausland sollen eingeschüchtert werden."

Ebenfalls heute schlugen Polizisten den kurdischen Politiker Ahmet Turk in Batman brutal zusammen. Turk, der an einem Herzfehler leidet, liegt mit einem Schock und Verletzungen im Krankenhaus. Der Grandseigneur der kurdischen Friedens und Demokratiepartei (BDP) hatte sich bereits in den 1990er Jahren gemeinsam mit Leyla Zana für die Rechte der KurdInnen im Parlament eingesetzt. "Die türkische Regierung scheint mit allen Mitteln zu versuchen, Gewalt bei den Newrozfeierlichkeiten zu provozieren." An vielen Orten kommt es mittlerweile zu Ausschreitungen. In Viranshehir (Provinz Urfa) hindert die Polizei mit scharfen Schüssen die Menschen am Betreten des Festplatzes.

Tausende Menschen trugen heute in Istanbul den Vorsitzenden eines Stadtverbandes der Demokratischen Friedenspartei BDP, Hacı Zengin, zu Grabe, der am Wochenende von der Polizei bei Angriffen auf ein Newrozfest getötet wurde.

Wir verurteilen den Einsatz von Waffen gegen Menschen, durch den bewusst schwere Verletzungen oder der Tod in Kauf genommen werden, aufs Schärfste. Von der EU und der Bundesregierung erwarten wir dass sie politische Maßnahmen zur Verhinderung weiteren unnötigen Blutvergießens unternimmt.

Heidrun Dittrich, MdB, Die Linke
Andrej Hunko, MdB, Die Linke, Mitglied in der parlam. Versammlung des Europarats
Harald Weinberg, MdB, Die Linke
Ulla Jelpke, MdB, Die Linke
Ali Atalan, Die Linke NRW
Martin Dolzer, Soziologe
Dr. Peter Strutynski-Friedensratschlag


Hintergrund - Die Situation in den letzten Tagen

Durch ein kurzfristiges Verbot der Newrozfeiern in Istanbul, Diyarbakir und weiteren Städten sowie die "Anordnung" das Fest lediglich am 21.03 feiern zu dürfen, streben die türkischen Behörden eine Eskalation der Situation an. In den letzten Jahren waren die kurdischen Neujahrsfeste in der Woche um den Newroztag, den 21.03. genehmigt worden, um der Bevölkerung das Feiern auch am Wochenende zu ermöglichen. Aufgrund dessen verliefen sie friedlich.

Filmisch wurde dokumentiert wie Polizei und Militär in der kurdischen Metropole Diyarbakir eine Menge von mehreren 100000 friedlich feiernden Menschen mit Wasserwerfern, Gasgranaten und aus Hubschraubern mit Tränengas angriffen. Mehrere Polizisten schossen mit scharfer Munition. Mindestens zwei Kinder erlitten schwere Verletzungen. Eines der Kinder schwebt noch in Lebensgefahr. Es kam an all den Orten zu Auseinandersetzungen, wo die Sicherheitskräfte mit Gewalt versuchten das Demonstrationsrecht der Menschen zu verhindern. "Wir haben mit eigenen Augen gesehen wie Polizei und Militär bereits am frühen Morgen sich friedlich vor dem Büro der BDP versammelnde Menschen mit Schlagstöcken und Tränengas angriff. Ungefähr eine Million Menschen ließen sich trotz der unnötigen Gewalt nicht davon abbringen, für ihre Rechte und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage zu demonstrieren," berichtet die Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft, Cansu Özdemir, Die Linke, aus Diyarbakir.

Zusätzlich führten Sondereinheiten der Polizei Anfang der Woche in Batman, Hakkari, Van, Yüksekova, Çukurca Razzien durch. Mindestens 43 Menschen wurden festgenommen. Zeitgleich legte die Staatsanwaltschaft in Istanbul die Anklage gegen den Publizisten Ragıp Zarakolu und 192 weitere Personen im Rahmen des "KCK Verfahrens" vor. Für den mittlerweile für den Friedensnobelpreis nominierten Publizisten werden zehn Jahre Haft gefordert. Für Prof. Dr. Büşra Ersanlı, die die BDP vor ihrer Festnahme als Mitglied für den "Parlamentarischen Ausschuss für eine Diskussion über die Verfassungsreform" benannt hatte, forderten die Staatsanwälte 15 Jahre Haft.

Die AKP Regierung versucht offensichtlich mit allen Mitteln die politische Partizipation der kurdischen Bevölkerung zu verhindern und Gewalt bei den Newrozfesten und darüber hinaus zu provozieren. Insgesamt starben seit 2009 mehr als 10 Menschen bei Polizeiübergriffen mit Tränengas, 6500 Menschen, darunter u.a. 6 ParlamentarierInnen, 31 BürgermeisterInnen und mehr als 100 JournalistInnen und mehr als 1000 Frauenaktivistinnen wurden inhaftiert.

Wir unterstützen die kurdische Bevölkerung, die sich trotz anhaltendem Unrecht auch zu Newroz für eine friedliche Lösung des Konflikts einsetzt. Internationaler Protest und entschiedene Maßnahmen gegen die Politik der Regierung Erdogan die auf Gewalt, Krieg, Beschränkung der Meinungsfreiheit und Eskalation basiert sind nötig.

Rekordzahl: Politische Gefangene in der Türkei

Eine Antwort des türkischen Justizministers Sadullah Ergin auf eine parlamentarische Anfrage der BDP-Abgeordneten Pervin Buldan (Foto) im Parlament von Ankara macht deutlich, wie viele Menschen seit Beginn der »KCK-Operationen« (KCK steht für die verbotene Union der Gemeinschaft Kurdistans) verhaftet und verurteilt wurden.

Die Zahlen der in diesem Zusammenhang angeklagten Personen gibt der Bericht wie folgt an:
  • 2005: 14035 Männer und 2205 Frauen
  • 2006: 20308 Männer und 2511 Frauen
  • 2007: 25671 Männer und 3684 Frauen
  • 2008: 26000 Männer und 3941 Frauen
  • 2009: 47693 Männer und 5593 Frauen
  • 2010: 56237 Männer und 6880 Frauen
Die Anzahl der in diesem Zusammenhang zu Haftstrafen verurteilten Personen :
  • 2005: 2314 Männer und 412 Frauen
  • 2006: 3355 Männer und 374 Frauen
  • 2007: 5284 Männer und 647 Frauen
  • 2008: 5432 Männer und 649 Frauen
  • 2009: 8299 Männer und 912 Frauen
  • 2010: 8686 Männer und 1206 Frauen
Im Bericht des Justizministers wird auch eine Zahl der derzeit in der Türkei inhaftierter Kinder veröffentlicht. Im Jahr 2005 waren demnach 17 Kinder im Gefängnis, 2010 erhöhte sich die Zahl auf 1023. Die meisten von ihnen wurden wegen Steinwürfen auf Polizisten und Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen verurteilt.

Für die Jahre 2011 und 2012 macht der Bericht von Minister Ergin keine Angaben, dabei kam es in den letzten Monaten zu einer massiven Steigerung der KCK-Verhaftungen. Allein im Februar wurden mehr als 900 Menschen festgenommen.

Informationen im Internet: demokratiehintergittern.blogsport.de




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