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Bewaffneter Kampf als Hindernis

Hakki Keskin über Möglichkeiten zur Lösung des Kurdenkonflikts und die Rolle der PKK *

Eine Replik auf die Kolumne »Erdogans symbolische Reförmchen« von Nick Brauns (nd vom 20. 11. 2013)

Laut Schätzungen leben in der Türkei rund 15 Millionen Menschen kurdischer Herkunft. Das ist etwa ein Fünftel der 76 Millionen Gesamtbevölkerung. Die Kurden leben nicht nur in ihrer traditionellen Hauptwohnregion des Landes Südostanatolien, sondern sogar mehrheitlich in den sonstigen Teilen der Türkei: in Istanbul, Izmir, Ankara, Bursa, Antalya, Adana, Mersin und so weiter.

Nach dem Beispiel Frankreichs wurde die Staatsbürgerschaft in der Türkei als Bindeglied für alle Bevölkerungsteile, ohne Unterscheidung nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit, angesehen. Alle türkischen Staatsbürger wurden und werden eben als »Türken« betrachtet und genießen gleiche staatsbürgerliche Rechte, so auch die Kurden. Nach diesem Verständnis wurde die ethnische und kulturelle Identität der Kurden jedoch offiziell negiert. So auch die vieler anderer zahlenmäßig kleinerer Bevölkerungsteile: zum Beispiel Bosnier, Albaner, Tscherkessen, Lasen, Araber, Georgier. Unter sich pflegen die Kurden und andere kulturelle Ethnien dennoch seit Jahrhunderten ihre Sprache, Kultur und Traditionen.

Das Ziel der Kurdischen Arbeiterpartei PKK unter der Führung Abdullah Öcalans war anfänglich die Loslösung der traditionell von Kurden bewohnten Teile der Türkei, mit dem Ziel der Gründung eines kurdischen Staates. Mit diesem Ziel übte die PKK jahrzehntelang bewaffnete Überfälle gegen die Sicherheitskräfte, aber auch gegen zivile Staatsbedienstete, Lehr- und Gesundheitspersonal und andere aus. Laut Schätzungen starben hierbei mehr als 30 000 Menschen, zumeist Kämpfer der PKK selbst.

Seitdem sich der langjährige PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan im Gefängnis auf der İnsel Imrali befindet, will er laut eigener Aussage keinen kurdischen Staat mehr, sondern weitreichende Autonomierechte für Kurden. Diese Forderung wurde bislang weder von Öcalan noch von der ihm sehr nahestehenden und im Parlament vertretenen Partei für Demokratie und Frieden (BDP) konkretisiert. Nach meiner Beobachtung wollen die PKK und die BDP weitreichende Autonomierechte in der Türkei, aber zugleich eine Föderation oder Konföderation mit den Kurden in benachbarten Ländern erreichen.

Die Kurden leben in der Türkei, in Irak, Syrien und Iran und wollen eigentlich mittel- bis längerfristig einen eigenen Staat haben. Zur Erreichung dieses Zieles hat es jahrzehntelang Kämpfe in Irak gegeben, was nach dem Sturz von Saddam Hussein und mit Hilfe der Vereinigten Staaten zur Gründung der »Autonomen Region Kurdistan« innerhalb Iraks geführt hat. In Folge der Kämpfe in Syrien gegen die Regierung Bashar al-Assads wurde neuerlich an der türkisch-syrischen Grenze, nach dem Muster Iraks, eine »Kurdische Regierung in Syrien« ausgerufen. Dem soll nach Möglichkeit in Zukunft etwas Ähnliches in Iran folgen.

Es ist kein Geheimnis mehr, dass sich die Vereinigten Staaten im Rahmen ihrer sogenannten Neuordnung des Nahen Ostens die Gründung eines kurdischen Staates sowohl für die eigene dauerhafte Kontrolle dieser ölreichen Region als auch als zukünftiger Bündnispartner Israels wünschen und dies bestmöglich unterstützen.

Die türkische Bevölkerung ist ganz entschieden gegen eine Sezession der Kurden. Die Türken und Kurden leben sehr gemischt und überall im Lande mit millionenfachen Verwandtschaften zusammen. Die heutigen Grenzen des Landes wurden in Folge des Befreiungskrieges gegen die Besatzungsmächte nach dem Ersten Weltkrieg erkämpft und gelten als unteilbar. Die Lage in Irak und Syrien sorgt für große Beunruhigung und schürt die Befürchtung einer Loslösung der mehrheitlich von den Kurden bewohnten südostanatolischen Region.

Eine friedliche Lösung der Kurdenfrage ist nach meinem Dafürhalten jedoch möglich. Die PKK muss hierfür den bewaffneten Kampf endgültig aufgeben, ähnlich wie die baskische ETA und die irische IRA. Jüngst ist neben der Kurdenpartei BDP eine offensichtlich von der PKK initiierte neue Partei in der Türkei entstanden: die Demokratische Partei der Völker. Ich bin der Überzeugung, dass kompromissorientierten Forderungen der Kurden innerhalb der Grenzen der Türkei auf parlamentarisch demokratischem Wege durchaus erreichbar sind.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 6. Dezember 2013


Erdogans symbolische Reförmchen

Nick Brauns über eine Friedenslösung in Kurdistan und die Rolle der Arbeiterpartei PKK in dem Konflikt **

Am vergangenen Wochenende empfing der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan den Präsidenten der kurdischen Autonomieregierung in Nordirak, Massoud Barzani, zum Staatsbesuch in der PKK-Hochburg Diyarbakir im kurdischen Südosten der Türkei. Der durch lukrative Ölgeschäfte zum engen Verbündeten Ankaras avancierte kurdische Präsident soll Erdogan als Trumpfkarte in dem ins Stocken geratenen Friedensprozess mit der Arbeiterpartei Kurdistans PKK dienen. Schließlich gilt der konservative Clanführer Barzani als Gegenpol zum PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan und dessen sozialistischen Visionen in der Frage, wer die über vier Länder Türkei, Irak, Syrien und Iran verteilten Kurden repräsentiert.

Vor einem Jahr hatte die islamisch-konservative AKP-Regierung Gespräche mit dem seit 15 Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten Öcalan aufgenommen. Eine Guerillaoffensive und ein Hungerstreik tausender politischer Gefangener hatten der AKP zuvor verdeutlicht, dass sich der seit über 30 Jahren andauernde kurdische Aufstand nicht mit militärischen Mitteln alleine befrieden lässt. Der Dialog mit Öcalan trug auch außenpolitischen Realitäten Rechnung. So hatte sich im Schatten des syrischen Bürgerkrieges im Norden des Nachbarlandes eine kurdische Selbstverwaltung etabliert. Führende Kraft ist dort mit der Partei der Demokratischen Union eine Schwesterpartei der PKK. Das Bild Öcalans hängt oft nur einen Steinwurf von der türkischen Grenze entfernt in Regierungsgebäuden und Polizeiwachen.

Die Friedensgespräche mit Öcalan führten im März zu dessen Aufruf an die Guerilla, sich aus der Türkei zurückzuziehen. Dieser Schritt würde die Tür zu einer neuen Phase des Kampfes um die Demokratisierung der Türkei öffnen, hoffte Öcalan. Denn während türkische Nationalisten, aber auch deutsche Presseagenturen und Staatsanwaltschaften bis heute gebetsmühlenartig behaupten, die PKK kämpfe für einen eigenen Kurdenstaat, ist die Befreiungsbewegung von diesem Ziel bereits vor 20 Jahren abgerückt. Öcalan kritisiert Nationalstaaten heute als antiquierte Zwangsjacken, die ein gleichberechtigtes Zusammenleben der Völker verhindern. Stattdessen tritt er für eine auf Kommunen und Kooperativen basierende Selbstorganisation der Kurden innerhalb der bestehenden Staatsgrenzen sowie die Demokratisierung dieser Staaten ein. Zentrale Forderungen an Ankara betreffen daher die Freilassung der über 8000 politischen Gefangenen einschließlich Bürgermeister, Parlamentsabgeordneter und Stadträte, eine Senkung der Zehn-Prozent-Hürde bei Parlamentswahlen, muttersprachlichen Schulunterricht sowie kommunale Selbstverwaltung. Garantiert werden sollen diese Rechte in einer neuen Verfassung, die nicht mehr einseitig das Türkentum betont, sondern der multiethnischen und multireligiösen Realität der Türkei Rechnung trägt.

Auf den Waffenstillstand der PKK erfolgten bislang keine entsprechenden Schritte der Regierung. Zwar wurden Militäroperationen weitgehend eingestellt. Doch gleichzeitig wird der Bau von über 150 Militärstützpunkten zum Teil direkt auf den von der Guerilla geräumten Positionen vorangetrieben. Zudem unterstützt Ankara logistisch zu Al Qaida gehörende Gotteskrieger bei ihren Angriffen auf die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete in Syrien. Ein »Demokratiepaket« der AKP im September bedachte zwar die eigene fromme Anhängerschaft mit einer Aufhebung des Kopftuchverbots im öffentlichen Dienst. Doch substanzielle Zugeständnisse an die Kurden, die über eine Zulassung der bislang verbotenen Buchstaben X, Q und W hinausgingen, fehlten darin. Die PKK legte daher den Abzug ihrer Kämpfer vorerst auf Eis. Noch schweigen die Waffen und es ist nicht zu spät für eine politische Lösung. Doch Erdogan sollte nicht glauben, die nach Jahrzehnten opferreichen Widerstandes politisch erwachten Kurden durch symbolische Reförmchen oder eine aufgesetzte Barzani-Show abspeisen zu können.

Hoffnung auf Frieden und Skepsis über Erdogans Absichten halten sich unter den 800 000 in Deutschland lebenden Kurden die Waage. Mehr als 15 000 demonstrierten am vergangenen Sonnabend in Berlin gegen das vor 20 Jahren in enger Abstimmung mit der Türkei verhängte PKK-Verbot. Eine Aufhebung dieses Verbots wäre ein klares Signal der Bundesregierung an Ankara, den Friedensprozess mit der PKK ernsthaft fortzusetzen, anstatt die kurdische Seite nur in einem wahltaktisch motivierten Spiel auf Zeit hinzuhalten.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 20. November 2013


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