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"Es geht um den normalen Job von Journalisten"

In Istanbul stehen 44 Mitarbeiter von Medien vor Gericht: Angeklagt ist die Meinungsfreiheit. Ein Gespräch mit Norman Paech *



Vor einem Gericht in Istanbul wird seit Montag gegen 44 Mitarbeiter kurdischer und linker türkischer Medien verhandelt, Vorwurf: »Mitgliedschaft und Rädelsführerschaft in einer illegalen Organisation«. Sie sind einer der internationalen Beobachter dieses Prozesses – was wird ihnen konkret vorgeworfen?

Es geht weniger um die Mitgliedschaft in einer »illegalen Organisa¬tion« als um den normalen Job von Journalisten. Die Angeklagten haben über alle möglichen Themen berichtet: Erdbeben, Strafprozesse, Demonstrationen usw. Da werden dann Telefonate, die der einzelne im Rahmen seiner Recherche führen mußte, als Beweis für Kontakte zu verbotenen Organisationen genommen. Sie hätten, so die Anklage, nicht nur das Ansehen, sondern auch die Sicherheit der Türkei gefährdet.

Was droht den Angeklagten im Falle einer Verurteilung? Kann ihre Verteidigung frei arbeiten?

Sie erwarten langjährige Gefängnisstrafen. Den Verteidigern ist es gelungen, schon am ersten Tag zwei wichtige Punkte in den Vordergrund zu rücken: Zum einen stellten sie die Legitimität des Gerichtes mit dem Argument in Abrede, es stehe in der Tradition der Staatssicherheits-Gerichtshöfe. Deren Ziel sei es gewesen, jede kritische Berichterstattung zu unterbinden. Und zum anderen reagierten sie scharf darauf, daß der Richter den Gebrauch der kurdischen Sprache untersagte – also der Muttersprache vieler Angeklagter.

Welche Beweise legt die Staatsanwaltschaft vor? Welche Zeugen hat sie?

Die Anklageschrift ist 800 Seiten lang – ich habe sie leider noch nicht überprüfen können. Soweit ich bisher weiß, gibt es darin Abschriften abgehörter Telefongespräche, Aussagen von Zeugen, Fotos, die die Anwesenheit bei Demonstrationen belegen. An Beweisen dieser Art wird es der Anklage nicht mangeln – das Problem ist allerdings, daß hier normale journalistische Arbeit kriminalisiert wird.

Waren alle Anklagen bei der Prozeßeröffnung dabei?

Ja, auch die neun, die nicht in Untersuchungshaft sitzen. Als die Verhandlung begann, stellte sich als erstes heraus, daß der Saal zu klein war – die Angeklagten hatten jeder einen Verteidiger mitgebracht. Die Sitzung wurde unterbrochen und das Mobiliar so umgeräumt, daß schließlich alle Anwälte Platz fanden. Leider änderte es nichts daran, daß viele Prozeßbesucher draußen bleiben mußten.

Die Türkei steht nicht gerade im Ruf, ein Rechtsstaat zu sein. Was ist von diesem Gericht zu erwarten?

Die Justiz will offenkundig den Schein der Rechtsstaatlichkeit wahren. Die Polizei hat den Justizpalast zwar mit einigen Hundertschaften umstellt, sie hält sich aber bisher deutlich zurück. Der Richter ist ausgesprochen freundlich im Umgang, bisher läßt er die Anwälte ausreden und macht sogar einen vertrauenerweckenden Eindruck. Man könnte fast meinen, daß hier ein faires Verfahren stattfindet – wenn es nicht die konstruierten Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gäbe.

Lächelnde Richter sind meist die gefährlichsten ...

Das ist wohl auch in der Türkei so. Zu dem Prozeß sind jedenfalls zahlreiche Beobachter gekommen, auch aus anderen Ländern: Berichterstatter von Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen, auch ein Vorstandsmitglied der Deutschen Journalisten-Union ist anwesend. Ich wage keine Vorhersage, wie der Prozeß ausgeht – möglicherweise hat auch die Reaktion des Auslandes auf dieses Verfahren gegen die Presse- und Meinungsfreiheit einen Einfluß.

Seit Dezember wurden in der Türkei über 100 Journalisten eingebunkert, schätzungsweise wurden insgesamt 8000 Menschen verhaftet: Intellektuelle, Gewerkschafter, Politiker, Anwälte, nur 2000 sollen wieder auf freiem Fuß sein. In der Türkei selbst gibt es große Solidarität mit den Verhafteten, jetzt kommt es auch auf die Reaktion des Auslandes an, damit diesem unsäglichen Trend zur Delegitimierung von Grund- und Menschenrechten ein Ende gesetzt wird.

Die Türkei hat einen wichtigen Komplizen: die BRD. Erst am Wochenende hat die Polizei in Mainz bei einem Fest zahlreiche Kurden zusammengeprügelt ...

Alle NATO-Staaten sind Komplizen der Türkei. Sie ist ja einer der wichtigsten Bündnispartner, der Außenposten, der die NATO nach Südosten gegen Syrien, den Iran und den Irak und nach Nordosten gegen Kasachstan und Aserbaidschan absichert.

Interview: Peter Wolter *

* Norman Paech, ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, ist Professor für Völkerrecht in Hamburg

Aus: junge Welt, Mittwoch, 12. September 2012


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