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Türkische Armee entvölkert Dörfer

Angst vor dem Einsatz verbotener Waffen im kurdischen Şemdinli

Von Martin Dolzer *

Im Kreis Şemdinli (kurdisch: Şemzînan), an der Grenze zwischen der Türkei, dem Iran und dem Irak, finden seit dem 23. Juli ununterbrochen intensive Gefechte zwischen der türkischen Armee und den kurdischen Volksverteidigungskräften, HPG, statt. Die Guerilla der PKK kontrolliert dort ganze Regionen, hat vielerorts Straßenkontrollen eingerichtet und mehrere Hubschrauber abgeschossen. Das Militär bombardiert seit einer Woche die Umgebung der Stadt hauptsächlich aus der Luft und setzt modernste Waffen ein. Im direkten Umkreis der Stadt steckte die Armee mehrere Wälder in Brand.

Die Auseinandersetzungen finden hauptsächlich auf einem 20 Quadratkilometer großen Gebiet statt, das an den einen Kilometer von der Stadt Şemdinli entfernten Hängen des Berges Goman beginnt und sich bis zur irakischen Grenze erstreckt. Hier liegen die Dörfer Baglar, Cem, Güzelkaya, Mus, Bemlate, Rüzgarli, Zorgecit und Yigitler mit insgesamt rund 1000 Einwohnern. Seit dem 1. August waren ungefähr 60 Familien aus den Dörfern gezwungen zu fliehen. 31 Familien fanden zunächst eine Unterkunft bei Verwandten in der Nähe des Stadtzentrums, 29 in Nachbardörfern außerhalb des Kampfgebiets. Vier Dörfer mussten die BewohnerInnen vollständig verlassen. Aufgrund des rücksichtslosen Vorgehens des Militärs am Boden, der weiträumig angelegten Luftangriffe sowie durch den Beschuss mit Granaten und Raketen, besteht dort Gefahr für Leib und Leben. Eine große Zahl von Obstgärten wurde zerstört, Viehherden getötet. Für die Flüchtlinge hat die Stadtverwaltung von Şemdinli eine Hilfsstelle eingerichtet, an der Nahrungsmittel, Medizin, Kleidung verteilt werden.

Von der Außenwelt abgeschnitten

Die Dörfer sind zudem mittlerweile von der Außenwelt abgeschnitten, die Stromversorgung unterbrochen. Das Verlassen und Betreten des gesamten Gebiets ist seit dem 26. Juli verboten. Der Bürgermeister von Şemdinli, Sedat Töre, von der Demokratischen Friedenspartei BDP berichtet: „Wir haben versucht, mit Delegationen, auch mit den Abgeordneten der BDP, Esan Canan und Özdal Ücer, in die Dörfer zu gelangen, um humanitäre Hilfe zu leisten. Der Zugang wurde uns verweigert. Die Bevölkerung in der Stadt ist beunruhigt. Die Menschen erleben hier seit 30 Jahren Krieg. Eine so ausgeweitete und lang andauernde Militäraktion hat es bisher aber nicht gegeben. Die Vertriebenen können nicht in die Dörfer zurück.“ Das Aufenthaltsverbot, der Versuch, das Geschehen zu verschweigen und die Politik der Entvölkerung des Gebiets lassen die Menschen befürchten, dass auch verbotene Waffen und Kriegspraktiken eingesetzt werden.

In den letzten drei Jahren war des öfteren seitens des türkischen Militärs in den kurdischen Provinzen des Landes, wie auch im Nordirak, bewusst die Zivilbevölkerung bombardiert und mehr als 50 Menschen getötet worden. Auch die Übergriffe der Sicherheitskräfte und Aktionen paramilitärischer Strukturen hatten sich gehäuft. „In diesem Zusammenhang kann man von systematischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung sprechen“, so AnwältInnen in einem Gutachten zum Vorgehen des Militärs und staatlich beauftragter Kräfte. Auch die Berichte über Chemiewaffeneinsätze häuften sich in diesem Zeitraum, so dass dies auch in den Gremien der EU immer wieder Thema war.

Auch JournalistInnen mit dem Tode bedroht

Seit Beginn der Kämpfe in Şemdinli hatten Militäreinheiten versucht, sämtliche "Dorfschützer“ zu zwingen, an den Operationen teilzunehmen. Dorfschützer sind vom Staat eingestellte Paramilitärs. Es handelt sich um Dorfbewohner, die in den letzten Jahrzehnten zur Kollaboration genötigt oder angeworben werden. Viele der Dorfschützer weigerten sich nun an den Militäroperationen teilzunehmen. Berichten zufolge nehmen daran lediglich 30 bis 40 von Ihnen teil. Seit gut fünf Jahren entscheiden sich immer mehr "Dorfschützerdörfer“ oder "Dorfschützerfamilien“ nicht mehr gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen, da sie in der bevölkerungsorientierten Friedenspolitik der BDP den einzigen Ausweg aus dem langjährigen bewaffneten Konflikt sehen. Regionale Medien informierten, dass in Derecik Häuser von den Dorfschützerfamilien, die sich weigerten, nachts von "unbekannten Tätern“ beschossen wurden.

JournalistInnen alternativer Presseagenturen, die über die Auseinandersetzungen berichteten, wurden mit dem Tode bedroht. Nachdem die türkische Mainstreampresse zunächst die Auseinandersetzungen verschwieg, begann sie nach 8 Tagen mit gezielter Desinformation über die Gefechte zu berichten. Das die PKK in den kurdischen Provinzen der Türkei Gebiete kontrolliert und Berichten zufolge mehr als 60 Soldaten bei den Auseinandersetzungen starben, versucht die türkische Regierung vor der Öffentlichkeit zu „verstecken“. So äußerte der Außenminister gegenüber JournalistInnen „Ich weiß was in Şemdinli vor sich geht, aber ich werde es Ihnen nicht sagen.“ Aufgrund der ausführlichen Nachrichten in unabhängigen Medien und sozialen Netzwerken lässt sich das Geschehen allerdings nicht mehr völlig verschweigen.

Mehr als 8.000 PolitikerInnen und AktivistInnen inhaftiert

Nach einer Phase des Dialogs spitzt die türkische Regierung den Konflikt mit der kurdischen Bevölkerung und der PKK seit einigen Jahren, besonders seit 2009, kontinuierlich repressiv und militärisch zu. Es hatte bis 2011 Gespräche von Regierungsvertretern mit VerteterInnen der PKK in Oslo und mit Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali (der eine Roadmap für den Frieden vorgelegt hatte) gegeben. Die Gespräche wurden jedoch trotz konkret möglicher Schritte abgebrochen. Von 2009 bis Heute ließ die Regierung Erdogan im Rahmen der sogenannten KCK-Verfahren (KCK ist der Dachverband der kurdischen Gemeinden und wird staatlicherseits der PKK zugeordnet) mehr als 8.000 PolitikerInnen und AktivistInnen inhaftieren. Darunter 6 ParlamentarierInnen (u.a. Hatip Dicle, der bereits in den 1990er Jahren gemeinsam mit Leyla Zana für 10 Jahre inhaftiert war), 33 BürgermeisterInnen, 29 AnwältInnen, über 100 JournalistInnen, mehr als 1.000 Frauenaktivistinnen sowie unzählige GewerkschafterInnen und MenschenrechtlerInnen. Seit 2011 intensivierte die Regierung zusätzlich die Militäroperationen, so dass die PKK einen langen einseitigen Waffenstillstand beendete. Die AKP Regierung wollte nicht hinnehmen, dass sie die Kontrolle über die kurdischen Provinzen des Landes auf politischem Weg nicht erlangen kann. Die kurdische Bewegung ist dort sehr gut in der Bevölkerung verankert. Mit dem Konzept der Demokratischen Autonomie wurden große Teile der Menschen politisiert und von der BDP in die Gestaltung der Gesellschaft einbezogen. Als der AKP bewusst wurde, dass diese Entwicklung nicht mehr umkehrbar ist, begann sie mit der gewalttätigen Eskalation des Konflikts.

In der letzten Woche eroberte die Guerilla der PKK in der Grenzregion zum Irak und in der Nähe der Provinzhauptstadt Hakkari mehrere Militärstützpunkte und öffnete dadurch faktisch die Grenze. Zudem griffen Guerillaeinheiten eine Vielzahl von Militärkonvois in der Region an - u.a. auf der Hauptverkehrsstraße zwischen Yüksekova (kurd. Gever) und Semdinli - die jeweils umkehren mussten. Der Vorsitzende des Exekutivrates der PKK, Murat Karayilan, erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur ANF, dass für die Guerilla, nach dem Abruch der Verhandlungen zwischen Regierung und PKK in Oslo und der darauf folgenden Eskalation der staatlichen Gewalt, die Notwendigkeit bestand, eine angemessene Antwort auf monatelange Angriffe des Militärs auf die HPG und die Zivilbevölkerung zu geben. „An etlichen Orten wurden Angriffe durchgeführt, dort feste militärische Stellungen ausgebaut und so die militärische Vorherrschaft über die betreffenden Gebiete errichtet. Das ist unsere Taktik in dieser Phase“, so der Vorsitzende. Die türkische Regierung versuche der Öffentlichkeit diese Ereignisse bewusst zu verschweigen, um das Ausmaß der militärischen Auseinandersetzung und der Verluste sowie das Versagen auf politischer Ebene zu verschleiern. Auch türkische Militärexperten sprechen mittlerweile von den schwerwiegendsten Angriffen der PKK seit den 1990er Jahren.

VertreterInnen der BDP in Şemdinli sagen, dass Krieg nicht der Weg zur Lösung der kurdischen Frage ist und kritisieren, dass sich die Grundlage, auf der vor 30 Jahren der Bürgerkrieg begann, leider kaum verändert habe. Die türkische Regierung verleugne weiterhin die kulturellen, sozialen und politischen Rechte der kurdischen Bevölkerung. Der Staat solle den einzigen Weg der Konfliktlösung gehen, den er die letzten dreißig Jahren noch nicht versucht hat - den Weg des ernsthaften Dialogs und der Anerkennung der genannten Rechte. Dazu wäre auch eine Voraussetzung und ein Wunsch, dass die Länder Europas ihre über Jahrhunderte errungenen demokratischen Werte nicht einer profitorientierten Zusammenarbeit mit der Türkei opfern, sondern die Forderung der KurdInnen nach Freiheit und Demokratie unterstützen.

Die kurdische Bewegung strebt ein friedliches Zusammenleben aller Ethnien und Religionsgruppoen in der Türkei an und fordert für diese auch die Gewährung gleicher Grund- und Freiheitsrechte. (PK)

* Dieser Beitrag erschien als "Online-Flyer Nr. 366" am 08.08.2012 in der NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung; www.nrhz.de


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