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"Wir sind empört über die Verleihung des Steiger Awards an den Türkischen Ministerpräsidenten R.T. Erdogan"

Linke Politiker/innen, Wissenschaftler und Friedensforscher schreiben an Henning Mankell, Lou Reed, Hape Kerkeling, Gerhard Schröder u.a.


Im Folgenden dokumentieren wir einen Offenen Brief an die Veranstalter des Steiger Awards an den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan. Er soll den Preis am kommenden Samstag, 17. März, in Bochum erhalten. Auch aus den Reihen der Grünen und der nordrhein-westfälischen Landesregierung kommt Protest. So haben mehrere Minister ihre Teilnahme an der Preisverleihung abgesagt. Die Veranstalter selbst räumen die Berechtigung der Kritik ein, halten aber eine Absage für verfehlt. Nicht Erdogan werde gewürdigt, sondern er nehme den Preis nur stellvertretend für das türkische Volk in Empfang (siehe die Erklärung unten im Kasten).

Offener Brief anlässlich der Verleihung des Steiger Awards an den türkischen Ministerpräsidenten R.T. Erdogan

An Henning Mankell (Laudator), Lou Reed (Preisträger), Bundeskanzler A.D. Gerhard Schröder (Laudator), Ministerpräsidentin NRW, Hannelore Kraft, Oberbürgermeisterin von Bochum Dr. Ottilie Scholz, den Moderator der Steiger Awards Max Schautzer, Hape Kerkeling (dessen Musical „Kein Pardon während der Preisverleihung aufgeführt werden soll) und die Jury der Steiger Awards

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir sind empört über die Verleihung des Steiger Awards an den Türkischen Ministerpräsidenten R.T. Erdogan. Eine Auszeichnung des Ministerpräsidenten erscheint uns schlichtweg als das falsche Signal, da dieser die Türkei zur Zeit in ein Chaos aus Repression, Bürgerkrieg, Kriegsverbrechen sowie soziale Ungerechtigkeit führt.

Die Fakten sprechen für sich und gegen eine Auszeichnung von Ministerpräsident Erdogan:
  • 100 Inhaftierungen von Journalistinnen seit 2009
  • 6200 Inhaftierungen von kurdischen PolitikerInnen (im Rahmen der sogenannten KCK Verfahren), darunter 6 im Jahr 2011 gewählte Abgeordnete der Türkischen Nationalversammlung, 17 BürgermeisterInnen, mehr als 100 Stadträte, ca. 1000 Frauenaktivistinnen, mehrere Hundert GewerkschafterInnen
  • mehr als 2000 Inhaftierte Kinder, meist wegen der Teilnahme an Demonstrationen oder vermeintlichen Steinwürfen
  • seit 2009 stieg die Zahl der politischen Gefangenen seit der Regierungsübernahme durch die AKP im Jahr 2002 von ca. 5000 auf ca. 11000
  • die Anzahl der insgesamt in der Türkei Inhaftierten betrug 2002 ca. 54 000 - Heute sind es mehr als 124 000
  • mehr als 4200 angezeigte Fälle von Folter seit 2009, seit 2010 töteten Polizisten bei Demonstrationen mindestens 10 Menschen durch Tränengasgranaten
  • Kriegsdienstverweigerer werden kriminalisiert, inhaftiert, gefoltert
  • die Umsetzung einer Regierungspolitik, die seit 2009 progromartige Ausschreitungen gegen kurdische BürgerInnen provoziert - mehrere Menschen wurden gelyncht
  • die Umsetzung einer Regierungspolitik die gegen die Emanzipation der Frauen ausgerichtet ist
  • die Umsetzung einer Regierungspolitik die Homosexuelle und Transgender stigmatisiert und Verfolgung aussetzt
  • eine erstarrte Position der Regierung in Bezug auf eine Einigung in Zypern
  • seit 2009 häufen sich zudem die Berichte über Kriegsverbrechen durch Sicherheitskräfte und die türkische Armee - darunter die bewusste Tötung von ZivilistInnen (u.a. 34 Menschen starben bei einer Bombardierung von, auch laut Bericht eines Untersuchungsausschusses der Türkischen Nationalversammlung eindeutig als Zivilisten erkennbaren Personen in Sirnak Uludere), extralegale Hinrichtungen nach der Festnahme von Guerillas, Zerstörung von ganzen Regionen durch napalmähnliche Waffen sowie Berichte über Chemiewaffeneinsätze
  • die Beendigung des Friedensdialogs in Bezug auf die kurdische Frage. Neben Diskussionen in der Türkischen Nationalversammlung fanden in Oslo Gespräche zwischen von der Türkischen Regierung entsandten VertreterInnen und VertreterInnen der PKK sowie Gespräche mit Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali statt. Diese wurden 2011 beendet, obwohl ein friedlicher und demokratischer Weg bereits diskutiert war und möglich gewesen wäre. Die kurdische Seite orientiert seitdem noch immer auf Frieden, die türkische Regierung dagegen auf eine militärische Zuspitzung des Konflikts.
  • ständige völkerrechtswidrige Bombardements vermeintlicher Stellungen der PKK im Nordirak - unzählige ZivilistInnen starben
  • eine entsprechend der Weisung der grauen Eminenz der AKP, Fethullah Gülen, auf Eskalation der Situation und die Vernichtung der politisch tätigen KurdInnen ausgerichtete Rhetorik und Politik
  • Im November 2011 zeigten Angehörige von Opfern von Kriegsverbrechen, MenschenrechtlerInnen und Bundestagsabgeordnete in der Bundesrepublik Minister-präsident Erdogan wegen gravierenden Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbre-chen an. Die Anzeige basierte auf Grundlage des Völkerstrafgesetzbuches.
Wir sind der Ansicht, dass ein Ministerpräsident, der nicht für einen demokratischen Wandel, sondern für unzählige nicht juristisch begründbare Verhaftungen (so auch EU ParlamentarierInnen sämtlicher Fraktionen in Bezug auf die KCK Verfahren), eine auf Repression und Gewalt orientierte Politik in Bezug auf die kurdische Frage, die gezielte Einschränkung der Meinungsfreiheit sowie eine große Anzahl an Menschenrechtsverletzungen und sogar Kriegsverbrechen verantwortlich ist, nicht mit einem Preis ausgezeichnet, sondern stattdessen stark kritisiert und politisch, wie auch juristisch sanktioniert werden sollte.

Im Text zur Preisverleihung an Erdogan heißt es: „(...) Seit Jahren bemüht sich S.E. Premierminister Recep Tayyip Erdogan um einen demokratischen Wandel in seinem Land. In diesen Tagen wird deutlich, dass die Türkei eine Schlüsselrolle im Nahen Osten übernimmt. Die Türkei ist dabei von entscheidender strategischer Bedeutung. Das wirtschaftliche Potenzial der Türkei und ihre Funktion sind nicht zu unterschätzen. Längst ist die Türkei ein wichtiger Partner Deutschlands und Europas geworden.(...)“

Hier wird deutlich warum die Türkei und deren Ministerpräsident Erdogan seitens der Bundesregierung und der Deutschen Industrie ohne Rücksicht auf die Menschenrechte sowie Völkerrecht hofiert werden. Motivation der Auszeichnung sind wirtschaftliches Potential, die geostrategische Absicherung der Ressourcen, Öl, Gas und Wasser, die strategische Vorherrschaft der EU und USA (NATO) im Mitteleren Osten und Waffenexporte.

Wir bitten Sie sehr geehrte Damen und Herren Henning Mankell, Lou Reed, Bundeskanzler A.D. Gerhard Schröder, Ministerpräsidentin von NRW, Hannelore Kraft, Oberbürgermeisterin von Bochum, Dr. Ottilie Scholz, Max Schautzer und Hape Kerkeling, sich gegen eine Verleihung des Steiger Awards an Ministerpräsident Erdogan zu stellen, das Ereignis zu boykottieren - oder im Rahmen ihrer dortigen Beiträge auf die Verantwortung von Ministerpräsident Erdogan für die benannten Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, eine auf Gewalt orientierte Politik, die Eskalation der kurdischen Frage sowie soziale Ungerechtigkeit hinzuweisen.

UnterzeichnerInnen:
  • Prof. Dr. Norman Paech, Völkerrechtler
  • Prof. Dr. Werner Ruf, Friedensforscher
  • Dr. Peter Strutynski, AG Friedensforschung
  • Andrej Hunko, Mitglied des Bundestags (MdB), Die Linke, Parlamentarische Versammlung des Europarats
  • Ulla Jelpke, Mitglied des Bundestags (MdB), Die Linke
  • Hamide Akbayir, Mitglied des Landtags (MdL) NRW, Die Linke
  • Ali Atalan, MdL NRW, Die Linke
  • Barbara Cárdenas, MdL Hessen, Die Linke
  • Cansu Özdemir, Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft, Die Linke
  • Marion Padua, Stadträtin Nürnberg, Linke Liste
  • Martin Dolzer, Soziologe
  • Britta Eder, Rechtsanwältin
  • Yilmaz Kaba, Mitglied im Landesvorstand Die Linke Niedersachsen


Was ist der Steiger Award?

Der Preis ist nach dem Steiger benannt, einen Aufsichtsbeamten, der nach Bergbautradition besonders für Tugenden wie Geradlinigkeit, Offenheit, Menschlichkeit und Toleranz steht. Er trägt Verantwortung für einen Teil des Bergwerks und die ihm unterstellten Personen. Außerhalb des Ruhrgebiets ist der Begriff vor allem durch das populäre Bergmannslied, dem Steigerlied (Glückauf, Glückauf; der Steiger kommt ...) bekannt.

Der Name des Preises soll an die positiven Eigenschaften des Berufs im Bergbau anknüpfen. Die Wahrnehmung der Vergabe soll laut Selbstdarstellung der "kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Förderung der Rhein-Ruhr-Region" dienen. [Wikipedia]

Dokumentiert: Die Reaktion der Veranstalter:

Zur Preisverleihung DER STEIGER AWARD:

In den letzten Tagen wurde scharfe Kritik an der Verleihung des Steiger Awards 2012 an den türkischen Premierminister Erdogan geübt. Wir machen noch einmal deutlich, dass Herr Premierminister Recep Tayyip Erdogan die Auszeichnung stellvertretend für das türkische Volk für 50 Jahre deutsch-türkische Freundschaft in Empfang nimmt. Die Auszeichnung ist ausdrücklich keine Bewertung der innen- und außenpolitischen Aktivitäten des türkischen Ministerpräsidenten.

Die Verleihung erfolgt im Jubiläumsjahr des so genannten Abwerbeabkommens. Heute leben allein in Nordrhein-Westfalen über 700 000 Menschen mit türkischen Wurzeln. Eigentlich sollten die Gastarbeiter damals nur wenige Jahre bleiben. Schon längst prägen sie unser alltägliches Bild und bereichern die Gesellschaft. Menschen mit Migrationshintergrund gehören zu uns in Nordrhein-Westfalen, ob mit oder ohne deutschen Pass. Mit ihrem unermüdlichen Einsatz haben die Gastarbeiter seit 1961 maßgeblich zum Wohlstand unseres Landes beigetragen. Insbesondere das Ruhrgebiet ist wie keine andere Region von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte geprägt. Der Steiger Award ist ein Dank für diesen wertvollen Beitrag. Für viele ist Deutschland zur zweiten Heimat geworden, und viele haben sich in der Zwischenzeit erfolgreich eine Existenz aufgebaut. Integration kann nur dann gelingen, wenn wir mit den Migranten sprechen und nicht über sie. Dies gilt auch für den Dialog zwischen unseren Ländern. Auch eine kritische Auseinandersetzung gehört zur politischen Kultur. Nicht aber Aufrufe zu Boykottierung. Stellvertretend für das türkische Volk nimmt der demokratisch gewählte Ministerpräsident des Landes die Auszeichnung in Empfang. Die zahlreichen Kritikpunkte der kurdischen Vertreter aber auch des Zentralrats der Armenier sind auch in Ankara zur Kenntnis genommen worden. Die Auszeichnung soll das Miteinander von Deutschen und Türken ehren, welches gerade im Ruhrgebiet besonders gelungen ist.

Quelle: www.der-steiger-award.de/




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