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Keine Einmischung in den syrischen Bürgerkrieg durch die Hintertür!

Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag


  • Bundeswehr auf dem Sprung zu einem neuen Kriegsschauplatz
  • Die Türkei und die NATO spielen mit dem Feuer – die Bundesregierung möchte mitspielen
  • Friedensbewegung ist entsetzt

Kassel, Berlin, 18.11.2012 – Zu den Plänen von NATO und Bundesregierung, Patriot-Abwehrraketen samt deutschem Personal an die türkisch-syrische Grenze zu verlegen, erklärten die Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Lühr Henken und Peter Strutynski:

Seit Wochen versucht die türkische Regierung, die NATO-Verbündeten in den syrischen Bürgerkrieg hinein zu ziehen. Nun liegt ein konkretes Hilfsersuchen vor, worüber die NATO auf ihrer Sitzung am Montag entscheiden soll. Ankara wünscht sich, dass Raketensysteme des Typs Patriot an der Grenze zu Syrien stationiert werden. Neben den USA und den Niederlanden verfügt nur die Bundesrepublik Deutschland über den leistungsfähigsten Typ PAC-3. Aus Berlin, so wusste am Samstag die Süddeutsche Zeitung zu berichten, verlautet bereits Zustimmung: Die Bundeswehr werde sich mit einer oder zwei Patriot-Staffeln und bis zu 170 Soldaten an der Nato-Operation beteiligen. Zugleich heißt es, die Bundesregierung prüfe derzeit, ob dazu überhaupt ein Mandat des Bundestags erforderlich sei.

Der Bundesausschuss Friedensratschlag ist entsetzt über die Leichtfertigkeit, mit der die Bundesregierung sich in einen neuen Konflikt zu begeben bereit ist. Expertenmeinung geht eindeutig dahin, dass die syrische Regierung überhaupt nicht daran denke, neben dem Bürgerkrieg im Inneren gegen die Türkei eine äußere Front aufzubauen. Das türkische Hilfsersuchen entbehrt jeder realen Grundlage. Es kann nur so interpretiert werden, dass die Türkei ihrerseits daran interessiert ist, den Druck auf Damaskus zu erhöhen, um den bewaffneten Rebellen, die schon seit Monaten von der Türkei unterstützt werden, weitere Vorteile im Krieg gegen die reguläre syrische Armee zu verschaffen.

Die Patriot-Systeme sind nicht in der Lage Artilleriegeschosse oder Gewehrfeuer abzufangen, sondern wurden zum Zwecke des Abschusses von Flugzeugen und ballistischen Raketen entwickelt. Sie verfügen über eine sehr leistungsfähige Radaranlage, die präzise Aufklärungsdaten auch über den bodennahen Luftraum noch aus einer Entfernung von über einer 100 km ermöglicht – somit weit in syrisches Territorium hinein. Bisher hat es keinen Vorfall gegeben, wo syrische Raketen oder Flugzeuge Ziele außerhalb des eigenen Territoriums angegriffen hätten. Das legt den Schluss nahe, dass mit der Stationierung der Patriot-Batterien - über die Überwachung des syrischen Luftraums hinaus - noch weitere Ziele verfolgt werden. Die Stationierung von Patriots liefert die technische Voraussetzung zur Einrichtung einer "Flugverbotszone" – ohne es zuzugeben.

Die Überlegung der Bundesregierung, ein Bundestagsmandat sei in diesem Fall möglicherweise nicht erforderlich, ist dreist. Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 in einem Grundsatzurteil den konstitutiven Parlamentsvorbehalt bei Bundeswehreinsätzen im Ausland verlangt. Auch das Parlamentsbeteiligungsgesetz lässt hier keinen Spielraum: Es handelt sich eindeutig um einen bewaffneten Einsatz – gleichgültig wie er begründet ist – gegen einen Drittstaat (Syrien). Das Bundesverfassungsgericht hat hier eindeutig entschieden, dass der Bundestag zustimmen muss: Denn der Parlamentsvorbehalt greift nach dem sog. AWACS-Urteil desselben Gerichts "ein, wenn nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist." (BVerfG-Urteil vom 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03.) Darüber hinaus setzt so ein weit reichender Bundeswehreinsatz ein Mandat des UN-Sicherheitsrats voraus, der nicht zu erwarten ist. Folglich wäre ein zustimmendes Bundeswehrmandat – auch wenn es vom Bundestag gutgeheißen würde - völkerrechtswidrig.

Wir warnen davor, über die Hintertür: Hilfsersuchen der Türkei / Anforderung der NATO ganz nahe an den Bürgerkriegsschauplatz Syrien heran zu robben. Auf der Tagesordnung in Berlin steht die Beendigung bisheriger Kriegseinsätze, nicht die Vorbereitung neuer.

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Lühr Henken, Berlin
Peter Strutynski, Kassel


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Keine deutsche Beteiligung am türkischen Eskalationskurs

Presseerklärung von Sevim Dagdelen, Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, 20.11.2012

„Die Türkei bietet bewaffneten syrischen Oppositionsgruppen ein Rückzugsgebiet und eine Operationsbasis und ist im Konflikt mit Syrien eher Aggressor, als Ziel eines Angriffs. Die NATO und die Bundesregierung bestärken mit ihrer Zusage zur Unterstützung bei der Luftabwehr die Türkei in ihrem Eskalationskurs. Einmal mehr wird gezeigt, dass die NATO kein Verteidigungs- sondern ein Offensivbündnis ist", so Sevim Dagdelen, Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. für Internationale Beziehungen und Mitglied des Auswärtigen Ausschuss. Dagdelen weiter:

„Der Verteidigungsminister de Maizière agiert unehrlich dem deutschen Parlament und der Öffentlichkeit gegenüber, wenn er jeden Zusammenhang mit der Debatte um eine Flugverbotszone in Syrien, also eine offene militärische Intervention, für 'völlig abwegig' erklärt. Abwehrwaffen gegen Raketen und Kampfflugzeuge an der syrischen Grenze machen nur Sinn, wenn man mit weiteren Provokationen und Vorstößen der Türkei rechnet – und diese unterstützen will. Hier zeigt die NATO, dass sie eine aggressive Außenpolitik ihrer Mitgliedstaaten fördert und damit die Militarisierung der internationalen Politik wesentlich vorantreibt.

Der Umgang des Verteidigungsministers mit dem Parlamentsvorbehalt ist skandalös. Ohne auch nur vage Angaben gegenüber dem Parlament zu machen, signalisiert er Zustimmung in der NATO zur Entsendung deutscher Soldaten in die Türkei. Ob und warum diese überhaupt nötig sind, wurde bislang in keiner Weise offengelegt. Dass Deutschland über moderne Waffensysteme verfügt, kann keinen Automatismus zu weiteren Auslandseinsätzen der Bundeswehr sein. Doch genau solche Automatismen wollen Deutschland, EU und NATO gegenwärtig installieren, um die Rolle der Parlamente in der Außenpolitik weiter zu marginalisieren. Der Einsatz von Bundeswehrsoldaten und Patriot-Raketen in der Türkei heißt faktisch in einen Krieg gegen Syrien von der Kriegspartei Türkei hineingezogen zu werden. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland ist gegen einen Krieg gegen Syrien. Die Bundesregierung ist gefordert diesem Friedenswillen der Bevölkerung Rechnung zu tragen und keine Stationierung der Bundeswehr in der Türkei vorzunehmen."


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